Tief im Waldesinnern: Yann Mingards Fotoband „Repaires“

Wie nähert man sich als Europäer dem Wald, wenn er nicht als Naherholungsgebiet erkundet und durch ein Wegenetz erschlossen ist, sondern noch geradezu unberührt vor einem zu liegen scheint? Und worin liegt sein Versprechen? Woran rührt dieser Lebensraum, der dem Städter heute eher als bedrohtes Rückzugsgebiet erscheint denn als einmal fruchtbar sich erneuernde Vegetationsform Mitteleuropas?

Scheu und Forschungsgeist sind neben der einsetzenden Dämmerung, die der Fotograf auf seinen Farbaufnahmen einfängt, die beiden Begleiter, die einem beim Betrachten von Yann Mingards Fotobuch  „Repaires“ (Hatje Cantz) zur Seite stehen. Man wird still, als lausche man den Geräuschen der Waldtiere, dem Rascheln der Blätter, wenn man Seite für Seite, Blatt für Blatt tiefer in das Innere des Waldes geführt wird. Weiterlesen

Ein Foto-Querschnitt durchs heutige China: Menschen und ihre Arbeit

Eine steinalte Frau mit schönem Haar sitzt in ihrer Uniform an einem Tisch als wäre es eine Amtsstube, sie ist die letzte Überlebende des Langen Marschs und wohnt in einem Altenheim für Veteranen der Roten Armee. Eine wettergegerbte buddhistische Nonne, im handgewebten, schmutzigen Kleid blickt auf einen Stock gestützt den Betrachter wie aus weiter Ferne an. Einige Seiten weiter sieht man ein junges Mädchen im internationalen Girlie-Outfit, nicht ganz so schrill wie die jungen Japanerinnen, eher westlich, sie versucht gefährlich erfahren auszuschauen. Die Menschen in Chinas Metropolen haben in den letzten Jahrzehnten gewaltige Umbrüche in der Lebensweise erfahren, aber in abgelegenen Tälern findet man auch noch Bauern, die ihre Felder mit Wasserbüffeln und selbstgemachten Dreschflegeln wie ihre Vorfahren bewirtschaften.
Der bemerkenswerte Band „China“ von Mathias Braschler und Monika Fischer zeigt mit großem Ernst die ganze Spannweite der Lebensformen. Die Schweizer Fotografen reisten, begleitet von ihrem Fahrer, Assistenten und Dolmetscher Fu Yuan, sieben Monate quer durch das Land. Sehr lange Fahrzeiten, schwierige Organisation und pro Tag ein Porträt von Zufallsbegegnungen, die Fu Yuan zum Mitmachen bewegte, hatten sich die beiden vorgenommen. Weiterlesen

Das Phantom des Palastes

Bausperrzäune im Inneren der Räume des „Palastes der Republik“, ein beiseite gerückter Stuhl, die Spuren der Abbrucharbeiten: Betrachtet man die Fotodokumentation des Fotografen Christian von Steffelin über den aufgelassenen, zeitweilig umgenutzten, asbestsanierten, entbeinten und schließlich abgerissenen „Palast der Republik“ der gewesenen Hauptstadt der untergegangenen DDR, so ist es zeitweilig als schaute man in den aufgelassenen Fundus eines Theaters. „Erichs Lampenladen“ wie der Palast aufgrund der Unmengen von ballonförmigen Lampen im Inneren genannt wurde, wirkt aus heutiger Perspektive tatsächlich wie eine Mischung aus realsozialistischem Kaufhaus – es gab Rolltreppen und klein gemusterte Teppichböden – und Inszenierung dessen, was man in der DDR der Siebziger Jahre für fortschrittlich hielt. Manches verströmt den Charme älterer Sciencefiction Filme, zwischen Kitsch und Formwillen, mal futuristisch, mal zum Fürchten bieder.
Weiterlesen

Der erste Blick auf die Welt: The pencil of Nature in neuer Edition

Etwas „zum ersten Mal“ sehen zu können, darin bestand der größte Reiz für den Betrachter früher Fotografie: seien es entlegene Gebiete, Einblicke in unbekannte Lebensweisen, Kriegsschauplätze oder auch nur ein unverbrauchter Blick auf scheinbar vertraute Gegenstände des Alltags.

Das erste Fotografiebuch „The pencil of Nature“, das auf 24 in der Dunkelkammer eigens angefertigten Tafeln mit fotografischen Abbildungen das unverhofft Neue in der Kunst der Fotografie zeigt, erschien in England zwischen 1844-1846 als Subskriptionsalbum in Einzellieferungen. William Henry Fox Talbot, der Erfinder des Negativ-Positiv Verfahrens und damit des eigentlichen Vorläufers der analogen Fotografie (im Gegensatz zur Daguerreotypie, die Unikate lieferte) kommentiert darin Blatt für Blatt seine Entdeckung.
Weiterlesen

Die Welt der Hafenstädte

6Michael Zibolds Fotografien wurden in großen Hafenstädten mit klingenden Namen aufgenommen: Lissabon, Istanbul, Hamburg, Marseille, Shanghai sowie in vierzehn weiteren Städten. Fast klingt es wie eine Rechtfertigung, wenn der Klappentext dann davon spricht, dass diese Auswahl eine mehr „zufällige“ als „beabsichtigte“ Klammer eint: Der Hafen spiele auf den Fotos, die innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Jahren entstanden sind, eine eher beiläufige Rolle.

Klassische Hafensujets wie Schiffe, Kaianlagen, Fischernetze und Möwen befinden sich tatsächlich in der Minderzahl. Allerdings haben die Städte – bei aller geographischen und kulturellen Heterogenität – in der ständigen Gegenwart von Meer oder Fluss übergreifende Gemeinsamkeiten: Sie sind als Hafen- und Handelsstädte zuerst materieller Umschlagplatz von Waren und Menschen. Mit Fischereigewerbe, aber auch Prostitution sind sie Schauplatz harter körperlicher Arbeit. Ihre Verbindung zum offenen Meer schuf eine Projektionsfläche für Sehnsüchte nach Aufbruch und Weltläufigkeit, lange bevor die Welt global vernetzt war. Zibold zeigt das Unspektakuläre, aber visuell Reizvolle, das mehr über die Atmosphäre, das Licht, aber auch die Schattenseite einer Stadt auszusagen vermag als die Touristenattraktionen – es ist ein wenig wie mit Hotelzimmern: Sternehotels im historischen Zentrum bedienen Erwartungen, in einfachen Unterkünften in weniger besuchten Stadtteilen erfährt man etwas über die Bewohner.
Weiterlesen

André Kertész

7Der aus Ungarn stammende Fotograf André Kertész (1894-1985) hat unbeirrbar das fotografiert, was ihn interessierte und ausschließlich so, wie er es künstlerisch für richtig hielt. Erst das ländliche Ungarn, dann Paris und New York. Der vorliegende Katalog ist als Monografie zu Leben und Werk gestaltet.

Der kleine Ernest steht in kurzen wollenen Hosen, Stiefelchen und schwarzem Kittel selbstbewusst und ein wenig verträumt neben seiner Schulbank, ein blinder Geiger begleitet von einem barfüßigen Jungen spielt irgendwo auf einer nicht asphaltierten Dorfstraße in Ungarn auf, ein Junge in zu großen Kleidern hält sich zärtlich einen Welpen an die Wange – André Kertész fotografierte seine Umgebung in einer präzisen und zugleich berührenden Formensprache.

Sein Werk gibt in luzider Klarheit Zeugnis von seiner Umgebung, erst des ländlichen Ungarn, dann des Paris Mitte der 20er und 30er-Jahre. Jahrzehnte verbringt er in New York, einer Stadt, mit der er nie richtig heimisch wird und die er am liebsten aus der Distanz, von oben betrachtet: die Schatten der Passanten vor seinem Fenster, Schornsteine, die Geometrie der Fassaden. Weiterlesen

Ara Gülers Istanbul

9„Jedesmal wenn ich mir seine Fotos genauer anschaue, möchte ich am liebsten sofort an meinen Arbeitsplatz eilen und etwas über die Stadt schreiben“, mit diesen Sätzen endet Orhan Pamuks schöner Essay, der den im Dumontverlag erschienenen Fotografieband von Ara Güler zu Istanbul einleitet.

Ara Güler und Orhan Pamuk, der Magnum-Fotograf und der Nobelpreisträger für Literatur, haben beide Bilder von Istanbul geschaffen, die als eine behutsame Hommage an eine traditionsreiche Stadt im Umbruch zu lesen sind. Zart versponnen und herb zugleich kommen sie daher wie die Rauchschwaden der Schiffe, deren Dunst vielen Fotografien ihr besonderes Timbre verleiht. Das Istanbul der Vierziger bis Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist Thema der Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die Kamera bewegt sich in atmosphärischer Nähe zum Film, indem sie Szenisches zeigt: ernste Menschen bei ihrem Tagwerk, bei ihren Alltagsverrichtungen. Stets ist die Stadt selbstverständlicher Hintergrund. Sie wirkt grau, abgerissen und manchmal ein bisschen zu groß für die Menschen, die in ihr leben, gerade so wie die abgetragenen Anzüge mit Pullovern oder Westchen, in denen die Männer stecken. Nichts, was man von nahe zu sehen bekommt, ist passgenau auf den täglichen Bedarf zugeschnitten: sei es der Zustand der Häuser, der Wege, der Kleidung oder auch nur das müde Herumstehen der Männer am Straßenrand. Sieht man aber die Menschen als dunkle Figuren im Gegenlicht vor der wie eine vorüberziehende Erscheinung wirkenden Silhouette der Moscheen und osmanischen Prachtbauten, so geht ein eigenartiger Sog von ihnen aus: Sie behaupten sich auf eine unprätentiöse, fast scheue Weise.
Weiterlesen

Sehen und Erfassen: Edward Westons Kompendium der Natur

16Zwei Anliegen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen, zeichnen die Aktaufnahmen des amerikanischen Fotografen Edward Weston (1886-1958) aus:

Er versucht, wie er es für seine besonders gelungenen Porträts formuliert hat, „Sekundenbruchteile emotionaler Intensität“ einzufangen. Und er erstellt mit seinen Arbeiten eine Art Alphabet, verfolgt beharrlich visuelle Korrespondenzen innerhalb der Vielfalt natürlicher Formen: „Alle grundlegenden Formen sind so eng miteinander verwandt, dass sie visuell gleichwertig sind… Es ist schon vorgekommen, dass auf meinen Aufnahmen (vor näherer Betrachtung) ein Rücken für eine Birne, Knie für Teile von Schneckenhäusern, ein Kürbis für eine Blume und Felsen für alles Mögliche gehalten wurden!“, kommentiert Weston seine Kunst.
Weiterlesen

Sehnsuchtspanorama – Elger Esser: Ansichten

17Eine Frau läuft barfuß in großen Schritten den Strand entlang. Man erkennt auf dem ersten, grob gerasterten, sehr vergrößerten Foto nur ihre Konturen: Sie hält ihren Körper entschlossen dem Wind entgegen. Auf dem nächsten Foto ist ein Junge zu sehen. Er steht auf eine Schaufel gestützt, mit Schiebermütze und Pulli bekleidet, die Füße im Wasser, am Bildrand. Er scheint gearbeitet zu haben.

Erkundungen des Elementes, vom Land aus betrachtet: Elger Esser greift in seinem Fotografiebuch auf eine Sammlung historischer Postkarten zurück. Sie zeigen Ansichten von der See, den französischen Küsten. Zunächst bestechen die gesprenkelten Farben. Ein Jadeschilfgrün, ein rötliches Braun, mit der die hoch vergrößerten Ausschnitte coloriert wurden, entführen das Auge in eine andere Welt. Weiterlesen

Feierliche Zurückhaltung, magische Präsenz

18Der mexikanische Fotograf Manuel Alvarez Bravo hat Zeit seines langen Lebens (1902-2002) sein Heimatland fotografiert: mit Empathie, Zuneigung, Formsicherheit, Witz und einem Wissen um das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz.

Sein Blick ruht auf einfachen Dingen, einer gestreiften Matratze, Menschen, die aus der Ferne gesehen, nie enden wollende Mauern entlanggehen, Männern in abgerissener Kleidung, die von hinten an einem Tresen sitzend zu sehen sind, einem pinkelnden kleinen Buben, Verkaufsszenen, gemalten Reklameschildern, die Fische und Augen zeigen. Sinnlich und einprägsam, manchmal auch plakativ ist die Formensprache seiner Schwarzweiß-Fotografien. Jeder Gegenstand gewinnt eine Eindringlichkeit, eine seltsame, fast magische Präsenz innerhalb des Raumes, den er in Alvarez Bravos sorgfältig abgewogenen Kompositionen zugemessen bekommt. Frühe Aufnahmen von weißem Papier, das, zu einem Zelt gefaltet, auf einem Tischtuch steht, lassen es plastisch wie eine moderne Skulptur erscheinen, ein bildfüllender Bücherstapel mit gebundenen Ausgaben, die Kanten bestoßen, das Licht bricht sich am Schnitt, vermittelt etwas von der Faszination der Welt des Geistes.
Weiterlesen