Nichts wäre verkehrter, als Katja Petrowskajas wunderbar poetische Kolumnen zu auf Papier abgezogenen Fotografien allzu schnell lesen zu wollen. Beim sportlichen Versuch des flotten Durchlesens gingen dem Leser zu viel Feinheiten, zu viel thematischer Reichtum, zu viel fein gesponnene, aus der Kunst- und Fotografiegeschichte gespeiste Assoziationen verloren. „Das Foto schaute mich an“ ist ein Buch für die zeitenthobene, allabendliche Lektüre. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja beginnt meistens damit, zu erzählen, wo ihr die Fotografie, über die sie berichten wird, erstmals begegnet ist, ob bei einer Ausstellung, im Familienalbum oder ob gar der Zufall sie ihr in die Hände gespielt hat. In welchem Moment trifft man auf eine Fotografie, wie begleitet sie einen, auf welche Art und Weise führt man sie mit sich herum? Im zweiten Schritt lässt sie uns, geschult an Roland Barthes, daran teilhaben, was sie beim Betrachten einer Aufnahme besonders bewegt. Das kann privat und dabei, da sie in der Ukraine aufwuchs und in Moskau studierte, hochpolitisch sein, aber auch von kunstgeschichtlichen Reminiszenzen getränkt. Oft werden dabei Diskussionen und Themen, die in der Fotografiegeschichte immer wieder von Neuem aufgegriffen wurden, angetippt.
So diskutiert sie beim Anblick eines Flüchtlingspaars am Meeresstrand, die Assoziation zur Venus von Botticelli, die ein Freund, der ihr das Zeitungsfoto, zusandte, dazu schrieb. Die erschöpfte junge Frau trägt ein fein gemustertes Kopftuch, eine goldfarbene Rettungsdecke ist um sie geschlungen. Dass Schönheit und die Hoffnung, welche die Liebesgöttin, die selbstbestimmt dem Meer entsteigt, verkörpert, bei einem so traurig stimmenden Thema aufscheinen kann, ist tief in einem europäischen Archetyp verankert. Es lässt, bewusst eingesetzt, allerdings auch Bilder des Elends konsumierbar werden und gleichzeitig bleiben sie genau deshalb in Erinnerung, wirken nach. Das ist in diesem Fall nicht so sanft, wie es erscheint, ganz im Gegenteil: „Die Göttin steigt aus dem Wasser, und man konnte den Blick von ihr nicht abwenden. Vielleicht nur ein Aufblitzen der Poesie, aber mir schien sich damit das Ende Europas in seinen eigenen brutalen Ursprung zu verwandeln.“
„Ist Schönheit etwas, das wir sehen – oder eher das Unsichtbare dahinter?“, fragt Petrowskaja an anderer Stelle bei der Schilderung von Sophie Calles Fotoprojekt zu Blinden. Manchmal sind es die Fragen, die sie zu stellen weiß, die überraschen. So zum Beispiel bei einer Familienaufnahme, die ein älteres Paar in sonntäglicher Kleidung zeigt. Neben ihnen sitzt eine junge, verträumt und in sich gekehrt blickende, nackte Frau und ein Junge im weißen Hemd: „Warum ist gerade sie, die das Genre des Familienfotos bricht, so natürlich?“ Sehr schön ist auch das Fabulieren gezeigt, in das man schnell beim Betrachten von privaten Bildern gerät. Petrowskaja spielt damit. So zum Beispiel, wenn sie eine patent aussehende, in einen Mantel gehüllte Babuschka beschreibt, die dennoch für die winterlichen Berge und gar einen Fünftausender, mit Seidenstrümpfen, Handtasche und Rock unpassend bekleidet auf einem Sessellift würdevoll dahin schwebt. Gegen Ende des Textes stellt sich heraus, dass wir uns ganz umsonst Sorgen um ihr Wohlergehen gemacht haben, der Lift führte auf einen kleineren Hügel. Die sowjetische Babuschka, die als Inbegriff der Kindheit beschrieben wird, erinnert mich übrigens an meine eigene alemannische Oma in den 60-iger Jahren und so schließe ich mit einem Zitat aus Don Quijote, mit dem die Babuschka-Miniatur endet und das alle Wunder der Welt erklärt: „Daran gibt es nichts Erstaunliches.“
Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an. Suhrkamp 2022, 255 S., 25 Euro
Zuerst erschienen in PHOTONEWS Februar 2023 Nr. 2/23