Der aus Ungarn stammende Fotograf André Kertész (1894-1985) hat unbeirrbar das fotografiert, was ihn interessierte und ausschließlich so, wie er es künstlerisch für richtig hielt. Erst das ländliche Ungarn, dann Paris und New York. Der vorliegende Katalog ist als Monografie zu Leben und Werk gestaltet.
Der kleine Ernest steht in kurzen wollenen Hosen, Stiefelchen und schwarzem Kittel selbstbewusst und ein wenig verträumt neben seiner Schulbank, ein blinder Geiger begleitet von einem barfüßigen Jungen spielt irgendwo auf einer nicht asphaltierten Dorfstraße in Ungarn auf, ein Junge in zu großen Kleidern hält sich zärtlich einen Welpen an die Wange – André Kertész fotografierte seine Umgebung in einer präzisen und zugleich berührenden Formensprache.
Sein Werk gibt in luzider Klarheit Zeugnis von seiner Umgebung, erst des ländlichen Ungarn, dann des Paris Mitte der 20er und 30er-Jahre. Jahrzehnte verbringt er in New York, einer Stadt, mit der er nie richtig heimisch wird und die er am liebsten aus der Distanz, von oben betrachtet: die Schatten der Passanten vor seinem Fenster, Schornsteine, die Geometrie der Fassaden.
Das Pariser „Jeu de Peaume“ hat dem Schaffen des 1894 in Ungarn geborenen Künstlers eine Retrospektive gewidmet. Die beiden Kuratoren Michel Frizot und Annie-Laure Wanaverbecq haben den im Hatje Cantz Verlag erschienenen Katalog als Monografie zu Leben und Werk gestaltet, unterbrochen von kleinen Kommentaren zu einzelnen Werkkomplexen. Die Übersetzung ins Deutsche liest sich über weite Stecken holperig bis mühsam und die eher anspruchslose Konzeption des Katalogs wird trotz der wunderbaren Fotos dem fotografischen Schaffen Kertész‘ und seiner Bedeutung für die Fotografiegeschichte kaum gerecht.
Einzelne Lebenssituationen werden unscharf nachgezeichnet: Von einer ersten Ehefrau des Fotografen erfährt man nur, weil im gleichen Atemzug die Scheidung und die anschließende Heirat mit der Jugendliebe aus Ungarn erwähnt werden. Auch über diese lebenslang währende Ehe werden recht kryptische Aussagen getroffen:
„André und Elisabeth führten eine vorbildliche Ehe, mit all den ihr eigenen Spannungen und Verletzungen, ihrem Anteil an Leid und sicher auch an Schuldgefühlen“,
… schreibt Michel Frizot. Schornsteine, die Kertész von seinem New Yorker Fenster aus sah und bei unterschiedlichem Licht zu wechselnden Tages- und Jahreszeiten mit ihrem faszinierenden Schattenwurf aufnahm, laden hingegen zu sentimentalen Spekulationen ein. Deren „menschenähnliche Formen“ seien für ihn, „dem es so schwer fiel mit anderen zu kommunizieren, zu geneigten und verständnisvollen Gesprächspartnern“ geworden, heißt es da. Näher kommt man dem Seelenleben des Fotografen bei der Beschreibung der fantastisch schönen Polaroids, die in ungewohnter Farbigkeit, die an die Brechung des Lichts in bunten Glasflaschen erinnert, das Treiben auf dem Platz unter dem New Yorker Fenster in den Blick nehmen.
Kertész hatte zwei Glasbürsten auf sein Fenstersims gestellt, ihr Umriss erinnert ihn, wie er selbst sagt, an die Gestalt seiner kurz zuvor gestorbenen Frau: „Ich war sehr berührt … der Hals und die Schulter … das war Elisabeth“. Formal knüpfen diese Experimente mit der neuen Technik an seine berühmte Serie der „distortions“ aus den 30er-Jahren an. Vor Zerrspiegeln entstanden Aktaufnahmen, Glieder und Körperrundungen zerfließen zu amorphen, lang gezogenen Gebilden. Pionier war Kertész zu unterschiedlichen Zeiten. Seine Aufnahmen des nächtlichen Paris standen Pate für die Fotos seines Landsmannes Brassaï. Mit einer Fotografie von Mondrians Pfeife und Brillen, die auf einem Tisch deponiert sind, schuf er, folgt man Annie-Laure Wanaverbecq, das „Porträt in absentia“. Eher durch Zufall konnte er sich zu den ersten Fotoreportern zählen: Die Rotationspresse und die Arbeit mit transparenten Druckvorlagen, statt wie bisher mit metallenen Klischees ermöglichen Ende der 20er-Jahre ein flexibles Layout, das es erlaubt, Fotos problemlos zu vergrößern oder zu beschneiden. Das neu gegründete Magazine „VU“ beauftragte Kertész mit Bildserien zu den unterschiedlichsten Themen vom Handwerk des Glasbläsers bis hin zum Leben in einem Schweigekloster. Kertész verkaufte seine Fotoserien auch an deutsche Illustrierte, was einen Streit um die Rechte an den Negativen nach sich zog. Im Katalog werden – leider sehr verkleinert – einige Seiten der Reportagen gezeigt, ebenso die unveröffentlicht gebliebenen Blaufahnen eines nie gedruckten Buches über New York. „Paris, je t ‚aime“ und „Of New York“ lauten die Titel zweier Fotobücher in den 70er-Jahren, die das unterschiedliche Verhältnis des Fotografen zu den beiden Städten charakterisieren: Nach der erfolgreichen Pariser Zeit erlebt Kertész eine jahrzehntelange Durststrecke in New York, erst im Alter wird ihm die gebührende Anerkennung zuteil.
In dieser zweiten Schaffensphase kümmert er sich auch um seinen Nachlass, die in Europa zurückgebliebenen Fotos der Frühphase. Berühmt wurde „Broken Plate“, eine beim Transport beschädigte, belichtete Fotoplatte, die Kertész so wie sie war in sein Werk aufnimmt. Kertész, der Ausschnitte aus seinen Fotos vergrößerte und so „recadrierte“, legte großen Wert auf den Bildcharakter seiner Fotos, diese „dokumentierten nicht“, sagte er, sondern sie „interpretierten“. Nur folgerichtig ist deshalb eine späte Aufnahme, die entstand, als man ihn 1984 darum bat, wie als junger Mann noch einmal mit Zerrspiegeln zu arbeiten: Statt der gewünschten Aktaufnahmen fotografiert Kertész eine weiß gestrichene, geschlossene Holztür in einem Altbau.
Michel Frizot, Annie-Laure Wanaverbecq: André Kertész. Ostfildern-Ruit, 2010. Hatje Cantz, 360 S., 544 Abb.
zuerst erschienen: Büchermarkt Deutschlandfunk, Sendung 24.02.2011