Ein Foto-Querschnitt durchs heutige China: Menschen und ihre Arbeit

Eine steinalte Frau mit schönem Haar sitzt in ihrer Uniform an einem Tisch als wäre es eine Amtsstube, sie ist die letzte Überlebende des Langen Marschs und wohnt in einem Altenheim für Veteranen der Roten Armee. Eine wettergegerbte buddhistische Nonne, im handgewebten, schmutzigen Kleid blickt auf einen Stock gestützt den Betrachter wie aus weiter Ferne an. Einige Seiten weiter sieht man ein junges Mädchen im internationalen Girlie-Outfit, nicht ganz so schrill wie die jungen Japanerinnen, eher westlich, sie versucht gefährlich erfahren auszuschauen. Die Menschen in Chinas Metropolen haben in den letzten Jahrzehnten gewaltige Umbrüche in der Lebensweise erfahren, aber in abgelegenen Tälern findet man auch noch Bauern, die ihre Felder mit Wasserbüffeln und selbstgemachten Dreschflegeln wie ihre Vorfahren bewirtschaften.
Der bemerkenswerte Band „China“ von Mathias Braschler und Monika Fischer zeigt mit großem Ernst die ganze Spannweite der Lebensformen. Die Schweizer Fotografen reisten, begleitet von ihrem Fahrer, Assistenten und Dolmetscher Fu Yuan, sieben Monate quer durch das Land. Sehr lange Fahrzeiten, schwierige Organisation und pro Tag ein Porträt von Zufallsbegegnungen, die Fu Yuan zum Mitmachen bewegte, hatten sich die beiden vorgenommen. Natürlich kann man auf diese Weise nicht nahe an die Menschen herankommen, die stets würdevolle Pose und ein Attribut aus dem Berufsleben oder, so das möglich war, der Arbeitsplatz und eine kurze Beschreibung der Lebensumstände und die Angabe des Alters müssen reichen. Dabei ist ein eindrucksvolles Kompendium herausgekommen und es ist ganz erstaunlich, wie stark die Bilder im Gedächtnis haften bleiben.

Da gibt es einen blau-weiß gekleideten Fensterputzer, der durch Gurte gesichert auf Stahlbalken steht, man sieht unter seinen Füßen keinen Grund. Er war ehemals Bauer und sein Feld stand genau an der Stelle, wie der Wolkenkratzer, dessen Fenster er jetzt putzt. Oder ein Friseur, der seinen Sitz in einer Garage aufgeschlagen hat: Zerschlissen ist sein Barbiersitz, derb die Gerätschaften, 20 Cent kostet ein Haarschnitt, das ganze Dorf trifft sich in seinem Salon. Kümmerlich und furchtbar angestrengt schauen die kleinen Kinder aus: In einem Dorf werden sie regelmäßig zur Baumwollernte herangezogen, andere trainieren sehr hart als Akrobaten für einen Zirkus oder als Darsteller für Kung-Fu Filme. Einige Filmschaupieler aus Historienfilmen sind dabei, man vergisst sie gleich wieder.

Im Gegensatz zum Bild einer über achtzigjährigen Frau, die für weniger als 20 Cent pro Tag ihr Geld mit dem täglichen Einsammeln von weggeworfenen Plastikflaschen verdient, sie muss weit laufen, bis sie an ihren Arbeitsplatz kommt. Sie hat ein lebendiges altes Gesicht und ihre Altkleider sind recht sauber und fast könnte man meinen, mit einem Blick für Muster und Farben zusammengestellt. Dann ein junger Mann, der eine schwer beladene, geflochtene Hucke mit Dünger durch einen Fluss trägt, welcher seine Felder durchschneidet. Er hat den Weg am Tag der Aufnahme 20-mal bei starkem Regen zurückgelegt.

Auch in China gibt es eine neue Mittelschicht und eine Oberschicht. Haltung, Posen, Gesichtsausdruck ähneln einander in Ost und West, als würden sich die Aufsteiger und Wohlhabenden in aller Welt in ihren Porträts wechselseitig spiegeln. Manch einer wirkt in der gewählten Symbolik seltsam verloren: Ein junger Bankier in leitender Position steht im maßgeschneiderten Anzug mit gleich vier, farblich aufeinander abgestimmten Einstecktüchlein auf dem Fensterbrett vor der in der Tiefe aufscheinenden Skyline Shanghais. Der widerständige Star-Künstler Ai Wei Wei ist der Einzige, der mit seinem Körper das ganze Bild ausfüllt: Er hält die Arme weit ausgebreitet wie auf Leonardos berühmter Virtuvscher Proportions-Zeichnung.  Ganz am Ende des Buches gibt es eine sehr kleine Aufnahme, welche die Fotografen bei der Arbeit zeigt: Sie wenden ihre Körper einander zu und schauen mit angedeutetem Lächeln direkt in die Kamera, die westliche Bildsozialisation ist unübersehbar.

Mathias Brachler, Monika Fischer: China. 160 S., 76 farbige Abb.  Hatje Cantz Verlag 2012, 39.80 €

zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung 07.05.2012 S.14