Der mexikanische Fotograf Manuel Alvarez Bravo hat Zeit seines langen Lebens (1902-2002) sein Heimatland fotografiert: mit Empathie, Zuneigung, Formsicherheit, Witz und einem Wissen um das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz.
Sein Blick ruht auf einfachen Dingen, einer gestreiften Matratze, Menschen, die aus der Ferne gesehen, nie enden wollende Mauern entlanggehen, Männern in abgerissener Kleidung, die von hinten an einem Tresen sitzend zu sehen sind, einem pinkelnden kleinen Buben, Verkaufsszenen, gemalten Reklameschildern, die Fische und Augen zeigen. Sinnlich und einprägsam, manchmal auch plakativ ist die Formensprache seiner Schwarzweiß-Fotografien. Jeder Gegenstand gewinnt eine Eindringlichkeit, eine seltsame, fast magische Präsenz innerhalb des Raumes, den er in Alvarez Bravos sorgfältig abgewogenen Kompositionen zugemessen bekommt. Frühe Aufnahmen von weißem Papier, das, zu einem Zelt gefaltet, auf einem Tischtuch steht, lassen es plastisch wie eine moderne Skulptur erscheinen, ein bildfüllender Bücherstapel mit gebundenen Ausgaben, die Kanten bestoßen, das Licht bricht sich am Schnitt, vermittelt etwas von der Faszination der Welt des Geistes.
Lange kann man sich in seine Bilder versenken, ihre Kraft spüren, ihre zeitlose Transparenz, die durch die Lichtführung geschaffen wird und die nicht nur in sozialkritischen Szenen aus dem harten Alltag des wirtschaftlich rückständigen Landes, sondern auch in den Aufnahmen der kargen Landschaft und den sanften Aktfotografien aufleuchtet. Eine „fast feierliche Zurückhaltung“, wie Jean-Claude Lemagny in seinem schönen Essay „Der Sinn der Erde“ scheibt, kennzeichnet seinen Umgang mit Menschen, mit Männern wie Frauen, Unbekannten wie Künstlern. Manuel Alvarez Bravo stand mit Fotografen wie Malern und Regisseuren unterschiedlicher Richtungen in Kontakt – man könnte seine künstlerische Offenheit gegenüber den Arbeiten von Zeitgenossen mit John Banville als „entspannten Eklektizismus“ bezeichnen. Manuel Alvarez Bravo hat jedenfalls allen Impulsen der Avantgarde in seinen Bildern mit feiner Hand eine Heimat gegeben, dem Surrealismus wie der neuen Sachlichkeit und so schenkt man den Worten seiner Witwe gerne Glauben: „Er übte keine negative Kritik, um die Leute nicht zu entmutigen. Er suchte niemandes Gesellschaft, nicht einmal die seiner Freunde oder seiner Familie. Er forderte nichts.“
Manuel Alvarez Bravo: Photopoetry. Mit einem Vorwort von Colette Alvarez Urbajtel und Texten von John Banville, Jean-Claude Lemagny und Carlos Fuentes. 335 Seiten, 374 Tritone Abbildungen. Schirmer/Mosel Verlag 2008, 58€
zuerst erschienen Süddeutsche Zeitung 10.10.2008