Betrachten wir ein Bild, so werden wir in einen anderen Raum hinein versetzt, da wir stets mehr sehen als nur das Materielle, mehr als die Farbe auf der Leinwand oder Kohlespuren auf Papier.

Tibor Pogonyi lockt uns in diesen Raum mit seinem malerischen Können, seinem Stil, der unsere Sinne wie unseren Gedankenflug gleichermaßen anspricht. Seine menschlichen Figuren sind voller Bewegung – und doch verhalten, wir meinen sie zu kennen – und doch wieder nicht. Das mag damit zu tun haben, dass sie in Komposition und Körpersprache an klassische Bilder der alten Meister erinnern. Wir haben dabei nicht unbedingt spezielle Bilder oder Künstler, noch nicht einmal eine bestimmte Zeit vor Augen, vielleicht denken wir am ehesten an die Renaissance, aber auch Rubens schaut uns über die Schulter. Es ist eher eine Synthese, all dessen, was wir selbst gesehen, gelesen und erfahren haben, und Resultat dessen, was Tibor Pogonyi mit seiner Malweise als Raum der Erinnerung vor uns entfaltet.
Bei Tibor Pogonyi stellt sich diese Sinnfrage trotz altmeisterlicher Komposition und malerischer Behandlung der Figuren nicht: Wir befinden uns auf seinen Bildern mitten in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts mit den sich mehr und mehr zuspitzenden, dramatischen Verläufen in Umwelt und Gesellschaft: Klimawandel, Flüchtlingsdrama, Einsamkeit, um nur einige brisante Motivkreise zu nennen. Seine Bilder enthalten dennoch kein eindeutiges politisches Statement, wie es ja heute gerne von Künstlern eingefordert wird.
Tibor Pogonyis Malerei zielt auf etwas Anderes, etwas zutiefst Menschliches. Ich würde es als fundamentales Mitgefühl, als Akzeptieren des Anderen/Unbekannten und – trotz allen Schreckens angesichts der Unbehaustheit und Verwundbarkeit des Menschen – ein Stück weit auch als existentiellen Trost bezeichnen. Die Betrachter und Betrachterinnen in ihrer Erkenntnisfähigkeit und Wachsamkeit zu stärken und zu tragen, ist ein besonderes Vermögen von Kunst. Wir sind, sowie wir uns intensiv auf das Kunstwerk einlassen, nie alleine, selbst bei schwierigen, ja ausweglos erscheinenden Themen gibt es ein Gegenüber.
Ein solches Vermögen der Kunst walten zu lassen, bedeutet stets einen Aufbruch ins Ungewisse, denn es erfordert jedes Mal von Neuem das ganze handwerkliche, intellektuelle und künstlerische Können des Malers. Denn wenn es nicht gelingt, und zum Beispiel das Akzeptieren des Anderen/Unbekannten entfällt, geraten wir schnell in den Bereich des Kitsches und nichts stimmt mehr. Wobei auch Kitsch kann trösten, ohne Frage, aber immer nur für einen kurzen Moment, danach wird alles schal.
Nachdenken über Malerei
Tibor Pogonyis Bilder hingegen sind vielschichtig und jenseits solcher Gefahr: Die Darstellung der nackten, männlichen, ausdrucksstarken Körper, partiell durch farbige, drapierte Tücher verhüllt, birgt auch ein hochreflektiertes Nachdenken über das Wesen von Malerei.

Auch hier sei ein Blick auf die Literatur des 19. Jahrhunderts gestattet, die das oft anschaulicher formuliert als es in klassischen kunstphilosophischen Texten der Fall ist. Der österreichische Dichter Adalbert Stifter zum Beispiel, der alle Facetten schwierigen Lebens durchlaufen hatte und wie zum Ausgleich literarisch wohlgeordnete Welten entwarf, schreibt im Roman „Der Nachsommer“, dass in der Kunst der Alten, die Gewänder einer Figur nicht willkürlich oder nur nach den jeweiligen „Schönheitsgesetzen“ ihrer Zeit drapiert wurden. Der Faltenwurf der Stoffe diente dazu, den Betrachtern den Ablauf von Bewegung vor Augen zu führen. Gelänge das, „dann drückt die Gestaltung nicht bloß den Zustand aus, in dem sie (die Bewegung, A.G.) gegenwärtig ist, sondern sie weist auch auf den (Zustand, A.G.) zurück, der unmittelbar vorher war, und von dem sich die Gebilde noch leise vorfinden, und sie läßt zugleich den nächstkünftigen ahnen, zu dem die Bildungen neigen.“ Das war im 19. Jahrhundert kein neuer Gedanke, sondern er hat eine lange Tradition, aber es ist hier sehr schön formuliert. Und erst recht dann, wenn Stifter noch ein Stück weiter geht, und das beschreibt, was Kunst darüber hinaus auch zu leisten vermag, nämlich ein imaginäres Überspringen der sinnlichen Erfahrung von der Hand des Künstlers, der malt oder modelliert, auf die Hand des Betrachters. Nicht selten kommt es vor, schreibt Stifter, dass man die Leinwand des Gemäldes oder das Marmor der Statue vergisst und zum Beispiel beim Faltenwurf von antiken Gewändern „nur den Stoff der Gewandung sieht, und ihn zusammenlegen und in der Hand ballen zu können vermeint“.
Dieses Spiel von Nähe zur eigenen, haptischen Erfahrung und zur Ferne, der anderen Existenz der Bilder, die uns im Grunde genommen notwendig auch ein Stück fremd bleiben muss, finden wir in Tibor Pogonyis Bildern.
Manchmal arbeitet Pogonyi, wenn er eine Körperhaltung seiner Figuren vorab studieren möchte, auch mit dem eigenen Körper. Er testet, ja kostet den Ausdruck, den er erreichen will, indem er die Bewegung selbst ausführt. Das wird fotografiert und das Foto dient wie ein Zeichnung als Studienblatt, von dem aus, mit malerischen Mitteln die eingenommene Haltung eine weitere Verarbeitung und Durchdringung erfährt. Der Maler hat, wenn wir in Stifters präzisem Bild bleiben wollen, also gleich mehrfach nacheinander „die Hand geballt“ und wir tun das im geglückten Kunsterleben mit ihm.
Da Tibor Pogonyis Themen nicht zufällig sind, sondern in unserer Zeit wurzeln, beschäftigen uns die Bilder über den Tag hinaus und entfalten – auch werkübergreifend – ihre Nachwirkung. Sie begleiten uns. Und schon sind wir nicht mehr wie Narziss, der sein Siegelbild betrachtet, ausschließlich mit uns selbst beschäftigt, sondern wir befinden uns in Gesellschaft, wie es Tibor Pogonyi auf seinem Selbstbildnis ist: Wir treten in Dialog mit Gesprächspartnern der Vergangenheit und können zeitlose Figuren, seien es Künstler, seien es Dichter, zu Rate ziehen oder ihr Echo aus der Ferne vernehmen. Und es mag uns – mit Tibor Pogonyis Bildern neu arrangiert – all das durch den Kopf gehen, was wir bisher gelesen, gesehen und erfahren haben.
Manches wirkt auf den Bildern auch surreal, nicht zuletzt die Landschaften, die mit ihrem schroffen Gestein oft in reizvollem Gegensatz zur verletzbaren menschlichen Haut stehen. Und gerade dieser surreale Anflug ist wichtig, damit wir auch bei „geballter Hand“ den nötigen Abstand erreichen, den es für jede Reflexion und Verarbeitung des Gesehenen braucht.
Apokalypse

Betrachten wir Tibor Pogonyis mit „Apokalypse“ (190×140, 2020) betiteltes Bild, zu dem es mehrere Variationen „Warten auf die Apokalypse“ und Vorstudien gibt, sehen wir ineinander verschlungene, aber nach den Kompositionsgesetzen fast wohlgeordnete Körper und Tücher, die als Gesamtfigur ein Rechteck mit Auswuchtung bilden: Dünne, sehnige Männer scheinen sich in roten, blauen, oder hellgrünen Tüchern verfangen zu haben, die ihre Köpfe verhüllen. Einige sind auch schon barhäuptig. Haben Sie sich befreit? Sie sehen sich ähnlich, sind es Brüder? Die Tücher hätten auf älteren Bildern auch als Lendenschurz dienen können, wir befinden uns aber im 21. Jahrhundert. Und so tragen sie enganliegende Unterhosen, keine modischen, sondern Solides, die Farben reichen von moosgrün mit leichtem Goldstich bis zu türkisgrün. Als Betrachter mögen einem da auch Farben in den Sinn kommen, wie man sie beispielsweise von mittelalterlichen, oberrheinischen Madonnendarstellungen kennt.
Die Männer müssen sich anstrengen, um sich aus dem Knäuel von Tüchern herauszuarbeiten. Es könnte eine Sisyphusarbeit werden, ob sie gelingt oder niemals enden wird, das weiß man noch nicht. Es fehlen indes das Buch mit den sieben Siegeln, die Pferde und Reiter, der Drache und das unter Schmerzen gebärende, apokalyptische Weib, das als Heils- und Hoffnungsfigur (gerne mit Maria assoziiert) inmitten des Weltgerichts, das so viel Ungemach über die Menschen verhängt, zur traditionellen Ikonographie des apokalyptischen Geschehens gehört, wie es die Offenbarung des Johannes im letzten Buch des Neuen Testaments nahelegt. Oder ist sie vielleicht indirekt in den Stoffen anwesend, so wie dies in den biblischen Geschichten zum Beispiel beim niemals in eigener Gestalt erscheinenden Gottvater der Fall ist? Die Tücher umflattern die Figuren nicht, wie das bei der barocken Darstellung des apokalyptischen Weibes bei Peter Paul Rubens gestaltet ist, sondern sie fallen an den Körpern herab und offensichtlich bilden sie Schlingen, die obwohl wir keine direkten Knoten ausmachen können, doch starke Bindungskräfte zu entfalten scheinen.
Im Zentrum des Bildes „Apokalypse“, auf das der Blick im Zuge der Komposition gelenkt wird, sehen wir leicht nach rechts versetzt, drei Tücher in türkis, moosgrün, karmesinrot. Vielleicht hebt die gesamte Formation aus Männern und Tüchern bald vom Boden in den Himmel ab – und wir befinden uns eher in einer Umgebung, einem surrealen Raum wie ihn zum Beispiel die Surrealisten Max Ernst und Salvador Dali entworfen haben? Entschweben sie womöglich schon und wir haben keine schwebende Frau, sondern aus dem Arbeitsgeschehen hinweg getragene Männer, die von der Mühsal des Daseins in andere Gefilde abdriften? Das ist natürlich alles reine Spekulation, aber ein Titel wie „Apokalypse“ in einem, sagen wir jetzt ganz bewusst, von der europäischen Kunstgeschichte getragenen Stil, lädt dazu ein. Der Maler selbst sieht darin das Surreale, was ja auch tatsächlich apokalyptische Visionen auszeichnet.
In den Bildern „Warten auf die Apokalypse“ dominiert die Furcht. Das Antizipieren einer Situation kann manchmal bedrohlicher sein, als das tatsächliche Involviertsein in das Geschehen selbst. Und so stellt die Apokalypse die gebändigtere Fassung vor – gebändigt durch den formalen Aufbau.
Tibor Pogonyis Bildkosmos
Durchwandern wir Tibor Pogonyis Bildkosmos, so fallen verschiedene Dinge ins Auge: Die immer wiederkehrenden, mit Tüchern verhüllten, schlanken Gestalten, sie entsprechen nicht unbedingt den heutigen, häufig auch tätowierten Körpern. Der stoffliche Gegensatz zwischen Stein und Haut sowie zeitlos gestaltete Tücher, die aber auch als Notbehelf zum rudimentären Schutz vor Blicken und Wetter dienen können, oder praktische Billigkleidung bei den Flüchtenden sind wiederkehrende Elemente.
Wir finden aber auch detailreich ausgeführte Feinstoffmalerei, die das meisterliche Können Tibor Pogonyis zeigen, wenn er zum Beispiel ein Rückenporträt einer Frau mit Haarknoten in einem blauen, vielfach gerüschten und getufteten, altertümlich anmutenden Kleid (Frau im blauen Kleid, 175×110, 2016) zeigt. Hin und wieder irritiert uns auf seinen Bildern ein kunstvoll gewürfelter Boden. Er erinnert an Fußböden auf Gemälden oder Fresken der Renaissance. Man setzte sie als eine Art Zeichenhilfe ein, um als Maler die geometrisch anspruchsvolle, noch ungewohnte, zentralperspektivische Darstellung von Menschen und Gegenständen in Räumen etwas leichter bewältigen zu können. Geradezu schwindelerregend ist die Sicht auf eine schräg von oben betrachtete Frau (Yuni, 140×180, 2017), die vom Maler auf einem solchen Boden platziert worden ist. Ihr nach hinten geworfener Kopf zeigt volles braunes Haar, das hellhäutige Gesicht ist makel- und regungslos. Wie ein Fallschirm breitet sich ihr dahin gegossener, zerknitterter Rock um ihre sitzende Gestalt aus. Eine besondere Rolle spielen auch hier wieder die Farben des Ölgemäldes: Die gelb-rote Bordüre auf dem perlmuttfarben schimmernden Rock, das rote Oberteil ihres Gewandes und der weiße, mit blau und grauen Würfeloberseiten geometrisch gestaltete matt-weiße Fußboden ergeben wirkungsvolle Kontraste.
Menschen in existenzieller Not

Einen eindrucksvollen Werkkomplex, mit dem sich Tibor Pogonyi beschäftigt, bilden Menschen in existentieller Not, die um ihr nacktes Überleben kämpfen. Die Köpfe zeigen das ganze Spektrum des Elends: Die Augen blicken verzweifelt oder als Steigerung ausdruckslos bis apathisch. Manche Menschen schreien, die ausgemergelten Körper sind angespannt, die Farben düster.
Dennoch sind die Menschen keiner konkreten Situation zugeordnet und auch die Bildtitel geben keinen Aufschluss. Man mag ein wenig an Carola Rackete denken, die ganz dezidiert nicht erfahren möchte, welche Menschen sie als Kapitänin aus Seenot gerettet hat. Es gehe erst einmal nur um das elementare Recht auf Hilfe in einer lebensbedrohlichen Situation, unabhängig davon, um wen es sich da handelt. Wüsste sie das, so würde sie das emotional sehr belasten, erklärte sie in einem Interview, das sie im Juni 2021 einem Magazin gab.
Ähnlich stellt sich das auf den Bildern von Tibor Pogonyi dar. Die so häufig eingesetzten Tücher dienen auch der Anonymisierung und das übertragen wir auch auf die Gesichter, die uns anblicken: Es sind nicht die Einzelnen, es ist gerade kein Journalismus, der personalisiert und emotionalisiert und der Geschichte Einzelner hinterherjagt, um Schaulust zu wecken und Aufmerksamkeit zu erheischen.
Es geht dem Maler um das Ganze, die Not, in die sich die Menschheit immer tiefer hineinbegibt, um Klimawandel, Waldbrände, Migration. Und hierfür setzt er sein ganzes Können ein, das uns mit malerischen Mitteln von der Antike bis zur Gegenwart geleitet.