Tief im Waldesinnern: Yann Mingards Fotoband „Repaires“

Wie nähert man sich als Europäer dem Wald, wenn er nicht als Naherholungsgebiet erkundet und durch ein Wegenetz erschlossen ist, sondern noch geradezu unberührt vor einem zu liegen scheint? Und worin liegt sein Versprechen? Woran rührt dieser Lebensraum, der dem Städter heute eher als bedrohtes Rückzugsgebiet erscheint denn als einmal fruchtbar sich erneuernde Vegetationsform Mitteleuropas?

Scheu und Forschungsgeist sind neben der einsetzenden Dämmerung, die der Fotograf auf seinen Farbaufnahmen einfängt, die beiden Begleiter, die einem beim Betrachten von Yann Mingards Fotobuch  „Repaires“ (Hatje Cantz) zur Seite stehen. Man wird still, als lausche man den Geräuschen der Waldtiere, dem Rascheln der Blätter, wenn man Seite für Seite, Blatt für Blatt tiefer in das Innere des Waldes geführt wird. Der Band setzt ein mit einer Ansicht vom Waldessaum, mittig steht ein kleiner Baum, der noch wachsen wird. Über einen Vorhang aus herabhängenden Nadelbaumzweigen gleitend, fällt der Blick auf eine dunkle, unzugängliche Stelle im Innern, das Auge registriert erste Grünabstufungen. Dann blinkendes Blattwerk, wie auf einem romantischen Gemälde ragen trutzige Stämme nach oben, wenig später stehen Tannen dicht an dicht, ein wenig Unterholz, fast meint man Tiere zu vernehmen. Immer tiefer ins Waldesinnere wird man hineingeführt und als dürfte man Zeugnis eines Geheimnisses sein, erkennt man die ungeheuere Vielfalt an Feinstrukturen und Farbabstufungen von Halmen, Schlingpflanzen, Grasbüscheln, vermoderten Blättern, Moosen und Farnen auf dem Boden. Manchmal glaubt man einen Grimmschen Märchenwald vor Augen zu haben, dann wieder atmet man auf, wenn man sich inmitten von Birkenstämmen auf einer Lichtung wähnt. Man freut sich am Anblick von etwas blühendem Rotklee inmitten umgeknickter Grasbüschel, ehe man im letzten Drittel des Buches die Sinne so geschärft hat, dass man mit dem Fotografen gerüstet ist, eine Expedition in den Bildraum des nächtlichen Waldes zu wagen.

Aber sind wir hier alleine, nur mit unseren Phantasien und Wunschbildern unterwegs oder war vor uns schon jemand hier? Im Vorwort wird beschrieben, dass Yann Mingard sich auch von Tierspuren leiten ließ. Und tatsächlich, schaut man sich daraufhin die Bilder noch einmal an, erkennt man die eine oder andere Spur, hier eine niedergedrückte Stelle im Gras, abgeknickte Äste, an anderer Stelle verstreut herumliegend Federn und dort ein Einlass ins Dickicht, den wohl ein Tier sich geschaffen hat. Der 1973 geborene Schweizer Yann Mingard hat im Tessin, in den Alpen und in der Bretagne fotografiert. Man durchstreift also wie in einem Film, der an unterschiedlichen Schauplätzen gedreht wurde, und doch ein Kontinuum ergibt, in diesem Buch einen imaginären Wald. Und dennoch ergibt sich – durch das immer tiefere Eindringen und das allmähliche Einbrechen der Nacht – ein Ganzes, das all das umfasst, was uns der Wald bedeuten kann: Er ist ein Ort, an dem man aufmerksam sein muss, an dem ein anderes Leben stattfindet, in dem man sich verirren, aber auch an kleinsten Anhaltspunkten orientieren kann. Man wird ganz Ohr in diesem Wald, obwohl es doch nur die von Mingards Kamera erzogenen Augen sind, die einem leiten.

Yann Mingard: Repaires. Hatje Cantz Verlag, 96 S., 35€

zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung 27.06.2012 S.14