Sehnsuchtspanorama – Elger Esser: Ansichten

17Eine Frau läuft barfuß in großen Schritten den Strand entlang. Man erkennt auf dem ersten, grob gerasterten, sehr vergrößerten Foto nur ihre Konturen: Sie hält ihren Körper entschlossen dem Wind entgegen. Auf dem nächsten Foto ist ein Junge zu sehen. Er steht auf eine Schaufel gestützt, mit Schiebermütze und Pulli bekleidet, die Füße im Wasser, am Bildrand. Er scheint gearbeitet zu haben.

Erkundungen des Elementes, vom Land aus betrachtet: Elger Esser greift in seinem Fotografiebuch auf eine Sammlung historischer Postkarten zurück. Sie zeigen Ansichten von der See, den französischen Küsten. Zunächst bestechen die gesprenkelten Farben. Ein Jadeschilfgrün, ein rötliches Braun, mit der die hoch vergrößerten Ausschnitte coloriert wurden, entführen das Auge in eine andere Welt. Dann das Raster: Es nimmt Meer und Menschen, Strand und Himmel ihre Stofflichkeit und Plastizität, als würde sich alles auf einer Fläche abspielen, die durch Farbpixel und grafische Strukturen gegliedert ist.

Das erinnert ein wenig an Gerhard Richters und Sigmar Polkes Arbeiten. Ja, wir haben es mit Bildern zu tun – und diese suggerieren keine unmittelbare Erfahrung, nicht die Illusion im Bild und womöglich selbst mit dabei gewesen zu sein, sondern zeitliche und räumliche Ferne. Die Begegnung mit dem Meer erscheint wie eine Verheißung aus einer anderen Welt. Zwar sieht man Arbeit und frühe Formen des Sports, aber sie sind so ins Bild gesetzt, dass sie wie Selbsterkundung und Welteroberung zugleich erscheinen.

Formen zu finden, die einem gewaltigen Gegenüber standhalten, ihm Paroli bieten können, ist die Aufgabe, die der Blick aufs Meer dem Betrachter wie dem Künstler stellt. An die Darstellung der offenen Landschaft hat sich die europäische Tafelbildmalerei erst zu einem späten Zeitpunkt und unter allerlei Vorsichtsmaßnahmen gewagt: Die Landschaft wurde in überschaubare Schichten aufgeteilt, der Blick konnte sich ausgehend von einem Rahmen, einem Gebäude oder Baum im Vordergrund allmählich in die Tiefe hineintasten. Zeitgenössische Reaktionen auf Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ zeigen, welch Schock es war, diese visuellen Stützen hinter sich zu lassen. Die ungeschützte Begegnung mit der Weite der Küstenlandschaft auf dem Bild empfindet Kleist wie einen körperlichen Eingriff: Den Betrachter überkomme das Gefühl „die Augenlider“ wären ihm „weggeschnitten“.

Solche Schockerlebnisse sind um die Jahrhundertwende längst historisch geworden und auch die flirrenden Wasseransichten der Impressionisten haben ihren Zenit schon überschritten. Auf Postkarten sind Fotografien zu sehen, die an bekannte Bildtraditionen anknüpfen und zugleich ein Authentizitäts-Versprechen ablegen: Der Schreibende ist selbst am Ort gewesen und die Abbildung zeigt den Ort so, wie ihn auch der Absender vor sich gehabt haben mag. Wie aber verhält es sich mit Aufnahmen von der Küste und vom Meer? In Essers Fotobuch gibt es eine Zusammenstellung von Meeresansichten, die in glühenden Farben das Vertraute und doch zugleich Fremde der See zeigen. Auf zahlreichen Fotografien gesehen, schwer zu lokalisieren, bilden sie ein Sehnsuchtspanorama. „Abreise“ heißt das letzte Kapitel des Buches. Hier gibt es Segelschiffe, hurtig ausschreitende weiß gekleidete Damen mit Bubikopf und Leuchttürme sind zu sehen. Ein Sonnenuntergang ist in verhalten glühenden Farben ins Bild koloriert, sodass einem, seltsam traumverloren, das Herz schwer wird.

Elger Esser: Ansichten. Bilder aus dem Archiv. Mit einem Text von Alexander Pühringer. 96 Seiten, 37 Farbtafeln. Schirmer/Mosel Verlag 49.80€
zuerst erschienen: Mare No.70 Oktober/November 2008