Ara Gülers Istanbul

9„Jedesmal wenn ich mir seine Fotos genauer anschaue, möchte ich am liebsten sofort an meinen Arbeitsplatz eilen und etwas über die Stadt schreiben“, mit diesen Sätzen endet Orhan Pamuks schöner Essay, der den im Dumontverlag erschienenen Fotografieband von Ara Güler zu Istanbul einleitet.

Ara Güler und Orhan Pamuk, der Magnum-Fotograf und der Nobelpreisträger für Literatur, haben beide Bilder von Istanbul geschaffen, die als eine behutsame Hommage an eine traditionsreiche Stadt im Umbruch zu lesen sind. Zart versponnen und herb zugleich kommen sie daher wie die Rauchschwaden der Schiffe, deren Dunst vielen Fotografien ihr besonderes Timbre verleiht. Das Istanbul der Vierziger bis Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist Thema der Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die Kamera bewegt sich in atmosphärischer Nähe zum Film, indem sie Szenisches zeigt: ernste Menschen bei ihrem Tagwerk, bei ihren Alltagsverrichtungen. Stets ist die Stadt selbstverständlicher Hintergrund. Sie wirkt grau, abgerissen und manchmal ein bisschen zu groß für die Menschen, die in ihr leben, gerade so wie die abgetragenen Anzüge mit Pullovern oder Westchen, in denen die Männer stecken. Nichts, was man von nahe zu sehen bekommt, ist passgenau auf den täglichen Bedarf zugeschnitten: sei es der Zustand der Häuser, der Wege, der Kleidung oder auch nur das müde Herumstehen der Männer am Straßenrand. Sieht man aber die Menschen als dunkle Figuren im Gegenlicht vor der wie eine vorüberziehende Erscheinung wirkenden Silhouette der Moscheen und osmanischen Prachtbauten, so geht ein eigenartiger Sog von ihnen aus: Sie behaupten sich auf eine unprätentiöse, fast scheue Weise.

Orhan Pamuk spricht von einer „unscheinbaren Atmosphäre“, welche die Stadt in den Fünfziger und Sechziger Jahren auszeichnete, Ara Güler habe sie vor dem Übersehenwerden und Vergessen bewahrt und zugleich auf den Reichtum der Formenvielfalt und Kennerschaft hingewiesen, die das Leben am Bosporus auch dem armen Stadtbewohner bieten kann. „Die Stadtdampfer an ihrer Form zu erkennen“ schreibt Orhan Pamuk als Liebeserklärung an die Stadt, „an ihren Schornsteinen, an der Art, wie sie im Wasser liegen; mit anzusehen, wie sich die dicken Rußwolken gemäldeartig am Himmel auflösen und sich wie ein bleierner Nebel auf die Silhouette der Stadt legen: Was könnte schöner sein!“

Ara Gülers Fotografien gleiten nie ins Pittoreske ab, dazu ist er mit den Menschen, ihrer Lebenslage und der Stadt zu vertraut. Er hat sie unter vielen Aspekten gesehen und porträtiert, wie zum Beispiel in Reportageserien, die er Ende der Vierziger und Anfang der Fünfziger Jahre über Arme, Arbeitslose und Zugezogene für verschiedene Zeitungen aufgenommen hat. In einem Haus in Istanbul, das ihm auch lange als Fotoatelier diente, hat Güler ein achthunderttausend Fotos umfassendes Archiv aufgebaut. Es dokumentiert über Jahrzehnte hinweg das Leben in der Stadt am Bosporus. Auch Orhan Pamuk hat in diesem Archiv für sein Istanbulbuch recherchiert. Hier hat er Auskünfte und Anregungen gefunden, um charakteristische Details zu sehen, die das Leben in den Straßen der Stadt ausmachen. Pamuk ist unentschlossen, ob das Grundgefühl, das ihm diese Fotografien vermitteln und welches ihm damals wie heute noch immer das Gleiche zu sein scheint, die Ursache für seine Freude an den Aufnahmen Ara Gülers ist. Oder ob vielmehr seine Fotografien ihn gelehrt haben „wie man Istanbul anschauen muss und was es dort zu sehen gibt“? Das ist tatsächlich eine Fragestellung, die das Beste, was Fotografie kann, auf den Punkt bringt: Fotos führen vor Augen, was einem vertraut ist, als habe man es schon immer in sich herumgetragen. Zugleich aber gewähren sie einen anderen Blick auf das Geschehen.

Ara Güler; Istanbul. Orhan Pamuk. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. DuMontBuchverlag Köln 2010, 34,95 €, 184 S., 156 Abb.
zuerst erschienen: SWR2 Sendung 25.08.2010