Bilder mit und ohne Einlegeblatt: Album, Filmepisode, Fotobuch

Ein Foto aus dem Familienalbum zeigt den Weg vom Auto zur Kirche an einem verregneten Apriltag: bunte Schirme, schmutzig-nasse Betonwände, Mädchen in weißem Kleid und Buben im Anzug, geschmückte Kerzen in der Hand, ein wenig angespannt ob des großen Tages und wegen des ungemütlichen Wetters. Dann die Feier im Trockenen und später noch einmal die Fotografien, die an die Verwandtschaft zur Erinnerung verschickt wurden: am Tag danach aufgenommen, bei strahlendem Sonnenschein, grünes Blattwerk im Hintergrund, die beiden Söhne noch einmal in die Anzüge gesteckt, die Kerzen in die Hand gedrückt.

Neben diesem eindrucksvollen und wahrscheinlich sehr katholischen Vorher/Nachher Bild-Paar vom Weißen Sonntag blieb mir auch ein weiteres Foto im Gedächtnis, das allerdings keinen Eingang ins Album fand: Der Kopf meines kleinen Bruders mit farbenprächtigem Federschmuck versehen, ragt aus einem nur verschwommen ins Bild gesetzten Vordergrund. In seiner Unschärfe und seinem aus dem Umgebungsgrau dann doch wieder überraschend klar herausgearbeiteten Detail wird das Bild zur Metapher für die Arbeit des unzuverlässigen und meist gnädigen Gedächtnisses (es sei denn man möchte es durch kruden Aktionismus, wie das Nachstellen eines Fotos überlisten). Zwischen diesen drei Bildern, dem tatsächlichen, dem inszenierten, dem wunderbar dilettantischen Zufallsbild haben sich die Siebziger Jahre in der BRD abgespielt, folgt man meinem, durch die private Kamera geprägten Bildgedächtnis.
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Veröffentlicht unter Essays

Pleite: die Jahre davor, die Jahre danach

Ein Kind fährt mit den Händen über einen TV-Bildschirm als bekäme es so etwas zu fassen, man sieht es nur als Silhouette: Die eine Hand patscht auf ein Buchstabenfeld auf einem eingeblendeten Rechteck, die andere tippt auf den Buchstaben R. Im billig ausgestatteten Fernsehstudio ist eine junge, etwas angespannt blickende farbige Frau zu sehen, sie hält die Hand ans Ohr. Von „zwei Geldpaketen“ der „Teilnahme ab 18 Jahren“ und Mobilfunk ist in der eingeblendeten Schrift die Rede.

Die Szene, 2006 auf einem Kinderkanal ausgestrahlt, leitet Heinz-Stephan Tesareks Fotobuch „Zwischenzeit. Bilder entscheidender Jahre“ ein. Es zeigt die Zeit vor und nach der Finanzkrise, ihre mentalen Voraussetzungen in der Welt der alten und neuen Medien, der Shows und Benefiz-Bankette und ihr fahler Widerschein in der Gewalt auf der Straße, in Prostitution, Armutsmigration, Obdachlosigkeit. Die Hälfte der Bilder sind in Wien entstanden, andere in den USA, viele in Osteuropa, das Wien nicht nur geografisch, sondern auch historisch besonders nahe ist. Tesarek ist seit vielen Jahren weltweit als Pressefotograf unterwegs und bekam 2013 mit einer Fotoreportage über eine griechische Mutter, die ihr Kind aus Armut und Fürsorge in ein SOS Kinderdorf abgegeben hat, den österreichischen Pressefotografiepreis „Objektiv“ zuerkannt.

Das Buch ist eine politisch dezidiertes Resümée seines Erfahrungshorizonts als Pressefotograf, der beruflich einmal Zutritt zu Gala-Dinners hat, ein andermal in Krisenregionen oder auf den Straßen Wiens bei Demonstrationen oder bedrohlichen Straßenszenen zugegen ist. Tesarek nützt das Medium Fotobuch dabei im besten Sinne, um in Rhythmus und Bildfolge zu zeigen, wie disparate Bildwelten, Medien und Realität ineinander greifen und so die unsichtbare Maschinerie der Globalisierung speisen. So sparsam die Angaben zu den Aufnahmen gehalten sind, so eindringlich wirkt die Bildabfolge. Hin und wieder unterbrechen Aufnahmen von flackernden Bildschirmbildern den Fluss der Schwarz-Weißfotos, die Lehman Brothers-Pleite zum Beispiel erscheint als Nachricht im Fernsehen nicht viel anders als eine Videoaufnahme von einem Banküberfall. Hände und Gesten sind zentral, als Pathosgesten, beim fulminanten Auftritt von Paris Hilton, als empor gereckte Hände oder geballte Fäuste, aber auch als intimster Part bei den glitzernden Partys der Millionäre, wie müde alte Tiere, abgehalfterte Zauberer oder Zangen erscheinen sie im Bildausschnitt oder als Zentrum der Bildaktion.

Eine Frage, die unterschwellig immer wieder aufscheint, ist wo und in welchem Kontext Bilder Menschen erreichen können. Da sind Obdachlose, die sich im Schatten des künstlichen Lichtes von Reklametafeln aufhalten oder Konsumenten von Sex-Werbung im Fernsehen – die angebotene Frau könnte genauso gut ein vermenschlichtes Comicfigürchen sein, das unter anderem Nippes im Wohnzimmerregal steht. „Europa ein leerer Traum“ lautet ein aus dem Arabischen übersetztes Graffiti aus einer bewegenden Bildfolge zur Situation von Flüchtlingen in Patras 2009. Ganz ohne Pathos, gerade auch bei schwierigen, „besetzten“ Themen gelingt es Tesarek elementare Situationen in ihrer ganzen Archaik zu zeigen: entlassene Bergleute, die konzentriert in wilden „Armenschächten“ Kohle hauen, Frauen, die um ihre Angehörigen, die bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind trauern, Kerzen entzünden und Abschied nehmen. Das sind Fotografien, die der Welt der Wohltätigkeitsbankette und Renditesteigerung mit sicherem Blick entgegentreten.

Heinz-Stephan Tesarek: Zwischenzeit. Bilder entscheidender Jahre. 144 S. Limitiere Auflage, nummerierte Exemplare, 48 €

zuerst erschienen in: PHOTONEWS Zeitung für Fotografie Nr.10/13