Das Raue und das Zarte – so könnte die Überschrift zu Gabriele Engelhardts fotografischen Arbeiten auch heißen, die sie in ihrem Buch „raw_material“ als Werkserien vorstellt. Die Bildhauerin und Fotografin, die auch bei etlichen Projekten von Christoph Schlingensief mitwirkte, hat zur Weiterverwertung vorgesehene Aufschüttungen aus Schlacke und Flussspat am Hafen von Kehl, geschreddertes Metall am Kremser Hafen sowie Plastikfolienberge, die in der Südpfalz, in Edenkoben in der Landwirtschaft entstanden sind, ins Bild gesetzt. Wie kompakt oder filigran sind diese künstlichen, nach Maßgaben der Logistik geformten Halden, was ist noch brauchbar, was wurde als toxisch ausgesondert? Wir sehen vor neutralem Himmel, den in der Regel asphaltierten Boden noch im Blick, meist mittig gesetzte Massive, die im Freien Wind und Wetter ausgesetzt sind: Wir erkennen verschiedene Grauabstufungen, Anthrazittöne, erdfarbenen Rost, Transparentes und grell Plastikbuntes. Diese Berge, fast Landschaften, sind keine Grundlage für menschliches Leben, sondern ihr Gegenteil: Sie zeigen die andere Seite der Industrialisierung, die durch sie entstandenen Abfallberge. Der geschulte Blick der Bildhauerin für Material und Form verbindet sich mit der geschickten Arbeit der Fotografin. Wir erkennen mit ihr die eigenwillige Schönheit in zottelig anmutenden Haufen: Das sind Holzhäcksel. Oder wir glauben uns in virtuellen Game-Umgebungen versetzt: ein Haufen aus Stahlschrott.
Massiv und geradezu haptische Gebirgslandschaften sind in Kehl aus schwarzer Schlacke gebildet. Wie Arme und Leiber zart ineinander verschlungen, sind die Ansammlungen von landwirtschaftlichen Folien, Anett Holzheid spricht in ihrem erhellenden und wunderbar geschriebenen Essay von Faltenwürfen und der „Poesie der Erschöpfung“, welche die ausgedienten Plastikfolien ausstrahlen.
Zwei Bilder geben ein besonderes Memento mori ab, eine Aufnahme einer hässlichen Betonmauer, auf der sich der Abdruck von Kohle aus einem Kraftwerk abgezeichnet hat und die Schredderrampe in Krems, die auf dem Bild wie der Zugang zu einer archaischen Kultstätte anmutet.
Die Bilder, die aus einer Vielzahl von Einzelaufnahmen, mit denen Gabriele Engelhardt Stück für Stück die Aufschüttungen abtastet, und digital zusammengesetzt sind („Ich knete, modelliere und verschleife die Daten“), werfen eine Reihe von Fragen an uns Müllproduzierende auf. Warum archaisieren wir unsere meist giftigen Hinterlassenschaften und denken an Fetische, wenn wir die bizarren Schrottaufhäufungen ansehen, weshalb imaginieren wir raue Gebirgslandschaften in den Alpen beim Anblick eines imposanten Schlackebergs? Weshalb juckt es uns in den Fingern und wir würden die Gebilde auf dem Bild – aber wohlgemerkt nur auf dem Bild, nicht in der Realität – am liebsten anfassen? Vor Industrieabfällen, ihrer Masse und Toxizität, ihrem Transport über Wasserstraßen und ihrer Lagerung verschließen wir gerne die Augen, sie sind unbekanntes Terrain für uns. Und wie einst Forschungsreisende, die sich erstmals außerhalb von Europa einer fremden Welt ausgesetzt fühlen, führen wir das Fremde auf Bekanntes zurück. Die funktionalen und zufälligen Schüttungen – die Plastikgebilde wurden zum Teil aber auch von den Maschinenführern mit Bedacht geformt.
Verlesen und sortiert, zerkleinert und aufgetürmt begegnen wir den zum Recycling oder zur Endlagerung aufgetürmten Materialien, eine Sammlung unserer Umweltsünden, die wie vieles, was hochproblematisch ist, wohlgeordnet, geradezu sauber, fast natürlich erscheint. Wäre da nicht die Struktur der Serie und des minutiös erstellten Bildaufbaus, in welchen die Gebilde eingetragen sind. Wir haben ein Register vor uns, sehr ästhetisch, berückend und bedrückend und doch, auf Asphalt oder fest gestampftem Boden ausgebreitet, nicht für diese Welt geeignet, selbst wenn wir einen Teil unseres Mülls dem Recycling zuführen können. Von daher sind die archaisch oder filigran erscheinenden Haufen Mahnmale, ja Grabstätten der Zivilisation.
Gabriele Engelhardt: raw_material. Verlag für moderne Kunst. Wien 2024, 30,91 €
Zuerst erschienen in PHOTONEWS Juni 2024 Nr. 6/24