Das Raue und das Zarte – so könnte die Überschrift zu Gabriele Engelhardts fotografischen Arbeiten auch heißen, die sie in ihrem Buch „raw_material“ als Werkserien vorstellt. Die Bildhauerin und Fotografin, die auch bei etlichen Projekten von Christoph Schlingensief mitwirkte, hat zur Weiterverwertung vorgesehene Aufschüttungen aus Schlacke und Flussspat am Hafen von Kehl, geschreddertes Metall am Kremser Hafen sowie Plastikfolienberge, die in der Südpfalz, in Edenkoben in der Landwirtschaft entstanden sind, ins Bild gesetzt. Wie kompakt oder filigran sind diese künstlichen, nach Maßgaben der Logistik geformten Halden, was ist noch brauchbar, was wurde als toxisch ausgesondert? Wir sehen vor neutralem Himmel, den in der Regel asphaltierten Boden noch im Blick, meist mittig gesetzte Massive, die im Freien Wind und Wetter ausgesetzt sind: Wir erkennen verschiedene Grauabstufungen, Anthrazittöne, erdfarbenen Rost, Transparentes und grell Plastikbuntes. Diese Berge, fast Landschaften, sind keine Grundlage für menschliches Leben, sondern ihr Gegenteil: Sie zeigen die andere Seite der Industrialisierung, die durch sie entstandenen Abfallberge. Der geschulte Blick der Bildhauerin für Material und Form verbindet sich mit der geschickten Arbeit der Fotografin. Wir erkennen mit ihr die eigenwillige Schönheit in zottelig anmutenden Haufen: Das sind Holzhäcksel. Oder wir glauben uns in virtuellen Game-Umgebungen versetzt: ein Haufen aus Stahlschrott.
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Sacred modernity
Hervorgehoben
Kirchenneubauten der Nachkriegszeit und der sich anschließenden Jahrzehnte, in denen die Gemeinden wenig Schwund oder sogar Zuwachs erfuhren, liefern ein jedermann zugängliches Kompendium für die Formensprache moderner Architektur. Es gilt in dieser Zeit einige, aber nicht zu viele Anforderungen beim Bau einer Kirche zu befolgen, was ihre Funktion angeht, die Abhaltung von Gottesdiensten, sowie einige liturgische Vorgaben. Zeitweise eröffnete sich recht viel Spielraum, man war von kirchlicher Seite durchaus daran interessiert, im Sakralbau mit der Zeit zu gehen.
Spätestens, wenn man den Band „Sacred Modernity“ von Jamie McGregor Smith in die Hand nimmt – er fotografierte vorwiegend in Deutschland, Italien, Polen, der Schweiz und in Österreich (mit Fokus auf Wien, wo der Smith seit 2018 lebt) – wird man sich des architektonischen Reichtums moderner Kirchengebäude bewusst.
WeiterlesenKatja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an
Nichts wäre verkehrter, als Katja Petrowskajas wunderbar poetische Kolumnen zu auf Papier abgezogenen Fotografien allzu schnell lesen zu wollen. Beim sportlichen Versuch des flotten Durchlesens gingen dem Leser zu viel Feinheiten, zu viel thematischer Reichtum, zu viel fein gesponnene, aus der Kunst- und Fotografiegeschichte gespeiste Assoziationen verloren. „Das Foto schaute mich an“ ist ein Buch für die zeitenthobene, allabendliche Lektüre. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja beginnt meistens damit, zu erzählen, wo ihr die Fotografie, über die sie berichten wird, erstmals begegnet ist, ob bei einer Ausstellung, im Familienalbum oder ob gar der Zufall sie ihr in die Hände gespielt hat. In welchem Moment trifft man auf eine Fotografie, wie begleitet sie einen, auf welche Art und Weise führt man sie mit sich herum? Im zweiten Schritt lässt sie uns, geschult an Roland Barthes, daran teilhaben, was sie beim Betrachten einer Aufnahme besonders bewegt. Das kann privat und dabei, da sie in der Ukraine aufwuchs und in Moskau studierte, hochpolitisch sein, aber auch von kunstgeschichtlichen Reminiszenzen getränkt. Oft werden dabei Diskussionen und Themen, die in der Fotografiegeschichte immer wieder von Neuem aufgegriffen wurden, angetippt.
WeiterlesenThomas Kellner: Kapellenschulen
Das bei Seltmann Publishers erschienene Fotobuch Kapellenschulen – Chapels Schools – Auf den Spuren der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI. erschien 2022. Mit Beiträgen von Dr. Andrea Gnam, Dr. Stefanie Siedek-Strunk, Isabell Eberling, Chiara Manon Bohn und Thomas Kellner
Thomas Kellners Werkkomplex lädt dazu ein, mit dem außergewöhnlichen Blick auf architektonische Details, auf die Gesamtgestalt, die Maßverhältnisse und Proportionen der fotografischen Neuformulierung, Interesse für die Mühen und die Bedeutung des Bildungswesens im ländlichen Raum zu wecken, welches ja den kulturellen Hintergrund, den „Humus“ des architektonischen Phänomens Kapellenschule bildet. (Auszug aus meinem Begleittext „Kappellenschulen: künstlerische Reflexion einer ländlichen Tradition“ im Buch)
Gspell 111. Bergbauern in den Alpen – die letzten ihrer Art
Umfangen von Hochnebel und verhaltenen Sonnenstreifen, die über die alpinen Steilwiesen streifen, liegt, an den Hang geschmiegt, der Südtiroler Hof „Gspell 111“. Ihn gibt es schon seit Jahrhunderten, ein dreistöckiges, verputztes Steinhaus, innen holzvertäfelt, angrenzend eine große Scheuer. Die Bewohner sind Bergbauern, ein älteres Ehepaar, einer der vier Söhne ist auf dem Hof geblieben, die Frau verbrachte die Wintermonate mit den schulpflichtigen Kindern unten im Tal. Roland Reinstadler, dessen Vater in der Nachbarschaft aufgewachsen ist, und der im Lauf der Arbeit weiteren familiären Verflechtungen nachspürt, hat die Drei über das Jahr bei Arbeit, Haushalt und Andacht fotografisch begleitet.
WeiterlesenKatharina Gruzei: Mir Metro
Einen atemberaubenden fotografischen Streifzug durch die Moskauer Untergrundbahn bietet Katharina Gruzei mit ihrem Fotobuch „Mir Metro“.
Ihr durchdacht gestaltetes, ja geradezu rhythmisch getaktetes Buch zeigt Aufnahmen, die zwischen 2008 und 2020 entstanden sind. Historische Fotografien in Schwarz-Weiß und glänzend geschriebene Essays zur Baugeschichte und zum utopischen Potential der Metro in der früheren Sowjetunion begleiten die Farbbilder. Ihre Fülle ist überwältigend, wir bewegen uns mit ihnen durch die Architekturgeschichte der Stationen und Pavillons, die vom Pomp bei Material und Ausstattung zur Stalinzeit über zurückhaltende Ornamentik bis hin zu kühnen Deckenkonstruktionen reicht.
WeiterlesenJohannes Gramm: Dinge
Dinge – Erinnerungen und ihre Gegenstände bei Tageslicht
„Das tut es doch noch“, pflegten ältere Leute gerne zu sagen, wenn es darum ging, ob ein Gegenstand, mit dem man gerne hantiert hat, auf einmal durch einen neuen, cleanen und moderneren ersetzt werden sollte. Und oft hatten sie mit ihrem Beharren auf dem Bewährten recht, denn nicht immer ist das Neue, auch das Stabilere oder Formschönere. Gegenstände, die das Zeug dazu haben, uns ein Leben lang zu begleiten, wachsen uns ans Herz, auch wenn wir es erst spät bemerken.
Dark Whispers von Beatrice Minda
Nach „Innenwelten“, einem Band, der sich Wohnungen von Rumänen und Exilrumän*innen widmet und einer Arbeit über Interieurs im Iran, wendet sich Beatrice Minda in einem weiteren Werkkomplex Innenräumen zu, die unserem Auge fremd anmuten.
Mit „Dark Whispers“ bekommen wir Einblicke in Behausungen auf Myanmar, das Beatrice Minda kurz vor dem Militärputsch bereiste. Der Begriff „Behausung“ beschreibt am besten, was wir im vom Kolonialismus und Militär geplagten Land, dem einstigen Burma, zu sehen bekommen: Es sind einfache, aus Bambus geflochtene Hütten, aber auch heruntergekommene Villen von ehemals wohlhabenden Händlern und Farmern aus England, China und Indien. Weiterlesen
Fotobuch von Thomas Kellner zu Fachwerkhäusern des Siegener Industriegebiets heute
Im Verlag Seltmann Publishers erschien so eben das Fotobuch zu Fachwerkhäusern des Siegener Industriegebiets heute von Thomas Kellner parallel zu einer Ausstellung seiner Bilder. Den Begleittext zu dem Band habe ich geschrieben.
Den Band gibt es als Paperback- und als Hardcover-Ausgabe.
Von der Paperback-Ausgabe gibt es 100 Stück beim Verleger.
Von der Hardcover-Ausgabe gibt es 95 Stück, die mit einem print zusammen beim Fotografen zu beziehen ist.
Friederike v. Rauch: Monastic
Wie kaum ein anderer Ort ist die Vorstellung vom klösterlichen Leben für Außenstehende durch innere Bilder von sehr hellen oder sehr dunklen Räumen bestimmt: Sie mögen als Zentrum der Selbstbesinnung und Gottesnähe einen karg ausgestatteten, aber ruhigen und weltabgewandten Zufluchtsort inmitten sorgsam gehegter Natur verheißen. Sie können aber auch, ganz im Gegenteil als Stätte fremdbestimmter, historisch nicht immer frei gewählter, lebenslanger und strenger Entsagung mit einem leisen Schaudern betrachtet werden. Physischen Zutritt gibt es nur zu vom Kloster selbst ausgewählten, freigegebenen Bereichen. Das praktische Interesse am Leben in religiösen Gemeinschaften ist indes sehr verhalten, wie die Schwierigkeiten, Nachwuchs für die Orden zu finden, zeigen. Die Architekturfotografin Friederike von Rauch wählt in ihrer Arbeit einen formalen Zugang, der sich ganz auf Räume und Raumfragmente des Klosterinneren verlegt: Es geht nicht um das Gemeinschaftsleben selbst, um Riten und Andacht, sondern um die tiefe und nach innen gerichtete Konzentration, welche die intensive Erfahrung des Raumes dem Einzelnen abverlangt. Weiterlesen