Die feinen Unterschiede: Architektonische Zeugen der Ost-Moderne zwischen Totsanierung und sorgsamer Archivierung

Über Jahrzehnte hinweg galten die architektonischen Zeugen der Ostmoderne hinsichtlich ihres ästhetischen Anspruchs als eintönig und trist. Das Interesse an ihnen erwachte spät. Heute scheint das gewichtigste Argument für den Erhalt der Bauten ihr drohendes Verschwinden zu sein.

Architektonische Relikte der Schwerindustrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahren im Westen als „Anonyme Skulpturen“ in den letzten Jahrzehnten Anerkennung und Pflege. Sie halten vor Ort die Erinnerung an untergegangene Produktionsformen und die funktionale Vielfalt von Industriebauten wach, mit denen man im laufenden Betrieb in erster Linie Schwerarbeit und Umweltverschmutzung verband. Fotografen wie Bernd und Hilla Becher waren es, die im großen Maßstab, mit langem Atem und systematischem Vorgehen das Auge schulten. Auch nüchterne Zweckbauten, so lernte man beim Vergleichen ihrer zu Tableaus angeordneten Bildfolgen, unterscheiden sich in ihren gestalterischen, funktions- und standortbedingten Varianten. Trotz dieser Vorschule der Aufmerksamkeit scheint sich auch im Fall der Ostmoderne zu wiederholen, was mit der lange ausgebliebenen, schließlich aber doch einsetzenden Wertschätzung für die Industriedenkmäler, einen Vorläufer fand. Recht verspätet, Weiterlesen

Bianca Patricia – Schlaflos in Manhattan: Tradition und Intimität, Bilder eines Berufsstandes

„Dass wir einen Pförtner haben, wußte ich gar nicht und wenn wir einen haben, so muss es der stillste Pförtner der Welt sein, denn ich habe nie etwas von ihm vernommen“, schreibt Adalbert Stifter in einer Erzählung Mitte des 19. Jahrhunderts. Und auch um 1910 ist der Blick auf den Pförtner der Blick auf ein „kleines Metier“ und die mit ihm verbundenen Lebensgeheimnisse. „Der Pförtner Bügelmann“ wird in einem Stück von Oscar Wagner mit dem sprechenden Titel „Der stille Portier. Berliner Lebensbild mit Gesang in einem Aufzug“ als 73 Jahre alt, „stumm, schlichtes weißes Haar, bartloses, freundliches Gesicht in gestrickter Jacke und Schürze“ und somit als unscheinbares Inventar des Hauses vorgestellt. Der Pförtner im Mietshaus und sein weibliches Gegenstück, die Concierge, deren Tätigkeit durchaus auch als Zuflucht für perspektivlose Intellektuelle Anlass zu romantischen Fantasien bieten kann (zum Beispiel im französischen Roman und der Verfilmung „Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barberry, 2006) sind im alten Europa als kleine Berufe in ihrer ursprünglichen Form weitgehend verschwunden. Sind sie so ausgestorben wie die literarische Figur des bildungshungrigen Essigbauers (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser) oder der über den großen Fragen des Kosmos grübelnden, kaum des Lesens kundigen Trödlerin (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 1. Fassung) in der Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts?

Folgt man dem europäisch sozialisierten Blick von Bianca Patricia so feiern diese Figuren möglicherweise ihre zeitgenössische Wiederkehr und Transformation im amerikanischen „Doorman“ der Banken, Firmen und Appartements oder in etwas proletarischerem Umfeld im Kassenhäuschen eines Parkhauses. Weiterlesen

Zwischen Anonymität und Heimat. Der fotografische Blick auf die Peripherie

In urbanistischen Diskussionen, die sich der Peripherie zuwenden, bleibt die künstlerische Fotografie marginalisiert. Dabei nimmt gerade sie die Besonderheiten des Gewöhnlichen in den Blick und schult das Auge für die Vielfalt kleiner Fluchten.

Die Mehrzahl der Bewohner einer großen, gar städtebaulich bedeutenden Stadt lebt heute nicht im Zentrum, sondern in Quartieren außerhalb der historischen Altstadt, in denen sich das Leben ganz anders abspielt als inmitten von glanzvoll restaurierten Bauwerken, malerischen Brücken und den Fußgängern zurückgegebenen Plätzen. Früher oder später kommt daher auch für den Städtereisenden, der nicht nur einem klangvollen Namen seine Referenz erweisen will, die Frage auf, wie sich der gewöhnliche Alltag der Stadtbewohner eigentlich gestaltet. Und als tatsächlich authentisch erweist sich dann eben nicht das kaum mehr bezahlbare Wohnen in der Altstadt, sondern das Leben in der Agglomeration, der Vorstadt, der Siedlung oder jener Mischform aus Stadt und Land, die in der Regel von beidem nicht eben das Beste mitgebracht hat.

In den Urbanistikdebatten der letzten 25 Jahre ist viel von „Bildern“ die Rede, inneren Bildern, welche den Bewohnern der Peripherie, die seit der von Thomas Sieverts in den späten Neunziger Jahren vorgenommenen Neubestimmung gerne auch „Zwischenstadt“ genannt wird, zur Selbstversicherung und Autonomie noch immer fehlen würden. Mehr und mehr wird der „Mythos der alten Stadt“ als ein durch Reiseberichte, Literatur und Malerei erzeugtes Sehnsuchtsbild deutlich, das sich von den tatsächlichen, historischen Lebensbedingungen in einer Stadt oder den restaurierten und sanierten Stadtkernen grundlegend unterscheidet. Zu laut, zu engräumig, zu umtriebig, zu stinkend, zu ungesund wären indes die früheren Städte für den heutigen westlichen Verfechter von Urbanität. Thomas Sieverts geht so weit, die Verdichtung von Lebens- und Arbeitssituation in der historischen Stadt mit der Lage in den dicht besiedelten Megatowns unterentwickelter Länder zu vergleichen. Weiterlesen

Dialog der Bauwerke, Einsamkeit der Nutzer

Die zeitgenössische Architekturfotografie kennt ganz unterschiedliche Positionen
Architekturfotografie begnügt sich nicht mit der präzis erfassten Wiedergabe der Anatomie eines Gebäudes. Die Standpunkte reichen vom praxisorientierten Zugang über Freiräume der Imagination bis hin zum Augenmerk auf Rückbau und Absurdität entfesselter Bautätigkeit.

«Offenbar schlug ein kühner Architekt vor, als Brest nach dem Krieg in Ruinen lag, wo man schon alles neu bauen müsse, da sollten doch alle Einwohner das Meer sehen können: Man könne doch die Stadt im Halbkreis wieder aufbauen, nach hinten immer höhere Häuser, die Stadt bis an den Rand der Strände gezogen.» So setzt Tanguy Viels 2009 erschienener Roman «Paris-Brest» ein. Statt der Freigabe des Blicks und der Aufkündigung sozial differenzierender Höhenunterschiede sei es zu einem Wiederaufbau gekommen, der die Hafenstadt «kubisch und abgeplattet» erscheinen lasse «wie eine aztekische Pyramide abgeschnitten mit einem horizontalen Sensenhieb». Solch literarische Architekturkritik, die mit einprägsamen visuellen Bildern arbeitet, rüttelt an dem, was Architektur und Architekturfotografie im gelungenen Fall materiell und immateriell in Aussicht stellen: Freude am Ausblick, eine soziale Perspektive, die Reminiszenz an tradierte geometrische Formen, die aber auch wie hier zum Nachteil für die städtische Situation gegen den Strich gebürstet werden können.
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Nächtliche Spiele

Einführung zur Ausstellung „Play“ von Ellen Bornkessel, Zeche Zollverein Essen 2013

Wir verlassen nach Einbruch der Dunkelheit das Haus oder steigen aus einem Fahrzeug und schon tauchen wir ein in das Treiben der hell erleuchteten Stadt, werden selbst zu einem Teil des Straßenbildes, das wir vorfinden: Sind wir noch Zuschauer oder sind wir bereits schon Akteure?

Ellen Bornkessels Aufnahmen zeigen die Großstadt als nächtliche Bühne für ihre Bewohner. Die architektonische Umgebung der Semperoper in Dresden bildet den Auftakt zu gleich mehreren Bildern (Das Ereignis, Der Weg, Die Kurve, Die Nachricht): ein großzügig gestalteter Platz, hell erleuchtete Fassaden und ausladende Treppenaufgänge, ganz großes Theater – die Schauseite der europäischen Monopole, Inbegriff kultivierter Architektur und städtischen Lebens. Das meiste ist jedoch spätere Inszenierung nach historischem Vorbild: Die im Krieg zerstörte Semperoper wurde teilweise schon in der Nachkriegszeit wieder aufgebaut, dann originalgetreu 1985 rekonstruiert und mit Beleuchtungsregie wirkungsvoll in Szene gesetzt.

Die Wahl dieses Ortes kann in zweifacher Hinsicht als geradezu programmatisch für Bornkessels Arbeit aufgefasst werden. Ihre Liebe gilt dem Theater, sie hat Probe und Premiere der spektakulären „Promethiade“-Triologie, die in Essen, Istanbul und Athen aufgeführt wurde, fotografisch künstlerisch begleitet. Weiterlesen

Reiz der Peripherie

Die Erkundung der Banalität anderswo. Landschaftswandel im Focus der Fotografie

Etwas zu sehen, was nicht im Reiseprospekt zu finden ist, lehrt die Landschaftsfotografie. Nicht nur unberühte Regionen, auch Industriezonen und auf offiziellen Karten nicht Verzeichnetes gerät so in den Blick.

Botschaften, die nur von oben zu sehen sind, ausgesandt vom Künstlerduo Remotewords: «Was bleibt ist die Zukunft», heisst es auf einem Dach der Zeche Lohberg Dinslaken.

Einmal angenommen, man wüsste nichts mehr von den Lebensumständen, in denen sich Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts befunden haben, nichts über die Orte und Landschaften, die sie bewirtschaftet, durchfahren und nach Gebrauch sich selbst überlassen haben. Man hätte, wie ein Archäologe, nur ihre Hinterlassenschaften vor sich und sollte jetzt Aussagen über Mentalitäten und Kultur treffen? Oder man hätte nichts als ein Bündel von Fotografien, die von einer Zeit und einem Ort als einzige Zeugen übriggeblieben sind. Das wäre eine ähnliche Situation, wie sie Godard in seinem Film „Les Carabiniers“ in den Sechziger Jahren durchgespielt hat. Zwei arme Männer vom Land zogen in den Krieg, um die Welt zu erobern, sie schossen und fotografierten. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg legen sie tatsächlich ihren Frauen, wie verspochen, das Erbeutete zu Füßen – in Form eines Koffers, vollgestopft mit Fotografien: Bauwerke und Gegenstände, alles ist darauf zu sehen. Aber eben nur zu sehen und nicht mit Händen zu greifen: Die Frauen haben wenig Freude daran. Und wären im Nachhinein vieleicht doch lieber selbst in die Welt hinausgezogen.

Bilder als Mahnungen
Heute ist das anders: Was man auf Fotografien zu sehen bekommt, die sich seit den Siebziger Jahren mit der banalen Peripherie, vernachlässigten Gebieten, verbauter Landschaft beschäftigen, das möchte man nicht unbedingt aus der Nähe sehen. Die Bilder dienen eher zur Mahnung und zeigen, was an Bausünden und Nachlässigkeiten schon alles begangen worden ist und wie die Welt einmal aussehen wird, wenn es so weitergeht wie bisher. Weiterlesen

Das Phantom des Palastes

Bausperrzäune im Inneren der Räume des „Palastes der Republik“, ein beiseite gerückter Stuhl, die Spuren der Abbrucharbeiten: Betrachtet man die Fotodokumentation des Fotografen Christian von Steffelin über den aufgelassenen, zeitweilig umgenutzten, asbestsanierten, entbeinten und schließlich abgerissenen „Palast der Republik“ der gewesenen Hauptstadt der untergegangenen DDR, so ist es zeitweilig als schaute man in den aufgelassenen Fundus eines Theaters. „Erichs Lampenladen“ wie der Palast aufgrund der Unmengen von ballonförmigen Lampen im Inneren genannt wurde, wirkt aus heutiger Perspektive tatsächlich wie eine Mischung aus realsozialistischem Kaufhaus – es gab Rolltreppen und klein gemusterte Teppichböden – und Inszenierung dessen, was man in der DDR der Siebziger Jahre für fortschrittlich hielt. Manches verströmt den Charme älterer Sciencefiction Filme, zwischen Kitsch und Formwillen, mal futuristisch, mal zum Fürchten bieder.
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Die Welt der Hafenstädte

6Michael Zibolds Fotografien wurden in großen Hafenstädten mit klingenden Namen aufgenommen: Lissabon, Istanbul, Hamburg, Marseille, Shanghai sowie in vierzehn weiteren Städten. Fast klingt es wie eine Rechtfertigung, wenn der Klappentext dann davon spricht, dass diese Auswahl eine mehr „zufällige“ als „beabsichtigte“ Klammer eint: Der Hafen spiele auf den Fotos, die innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Jahren entstanden sind, eine eher beiläufige Rolle.

Klassische Hafensujets wie Schiffe, Kaianlagen, Fischernetze und Möwen befinden sich tatsächlich in der Minderzahl. Allerdings haben die Städte – bei aller geographischen und kulturellen Heterogenität – in der ständigen Gegenwart von Meer oder Fluss übergreifende Gemeinsamkeiten: Sie sind als Hafen- und Handelsstädte zuerst materieller Umschlagplatz von Waren und Menschen. Mit Fischereigewerbe, aber auch Prostitution sind sie Schauplatz harter körperlicher Arbeit. Ihre Verbindung zum offenen Meer schuf eine Projektionsfläche für Sehnsüchte nach Aufbruch und Weltläufigkeit, lange bevor die Welt global vernetzt war. Zibold zeigt das Unspektakuläre, aber visuell Reizvolle, das mehr über die Atmosphäre, das Licht, aber auch die Schattenseite einer Stadt auszusagen vermag als die Touristenattraktionen – es ist ein wenig wie mit Hotelzimmern: Sternehotels im historischen Zentrum bedienen Erwartungen, in einfachen Unterkünften in weniger besuchten Stadtteilen erfährt man etwas über die Bewohner.
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“Stillleben nach dem Exodus. Wehrkirchen in Siebenbürgen” fotografiert von Peter Jacobi

13Einführung zur Ausstellung. Ausstellung vom 6. Dezember 2009 bis 22. Januar 2010 Gasteig München

Meine Damen und Herren, lieber Peter Jacobi,
Was haben wir weitergegeben, was wollen wir weitergeben, was dürfen wir weitergeben? Peter Jacobis Fotografien schaffen für solche Überlegungen Raum. Die Frage nach Bewahren und Verschwinden ist zur Existenzfrage der Moderne geworden, und dies nicht erst seit heute. „Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“, notierte Cézanne 1905 in sein Tagebuch. Nicht nur Landschaften und Lebensformen, auch Gebrauchsgüter unterliegen dem Sog des Verschwindens und es sind oft Künstler, die als erste mit ihren Arbeiten auf drohende Verluste aufmerksam gemacht haben: Peter Handke beispielsweise reiste in den Neunziger Jahren nach Spanien, um dort nach Musikautomaten, den Jukeboxen, Ausschau zu halten, die zu diesem Zeitpunkt längst aus heimischen Gastwirtschaften verschwunden sind. Der Filmregisseur Wim Wenders dokumentierte in seinem Film „Im Lauf der Zeit“ (1976) Lichtspieltheater im Zonenrandgebiet, da das Kinosterben in den siebziger Jahren die Dorfkinos erfasst hatte. In den abrissfreudigen sechziger und siebziger Jahren schärften Bernd und Hilla Becher mit nüchtern wirkenden Fotografien das Auge für die architektonischen und plastisch-skulpturalen Qualitäten von industrieller Gebrauchsarchitektur. Bei Kirchen, die ganz selbstverständlich – ohne dass es spezieller Erklärungen oder eines besonderen Blicks bedarf, zum Kulturerbe gezählt werden, hinterlässt die Bedrohung durch das Verschwinden eine weitergehende Verunsicherung als dies bei Jukeboxen und Getreidesilos oder Wassertürmen, die von vornherein nur zu temporärem Gebrauch bestimmt sind, der Fall sein mag. Weiterlesen