Nächtliche Spiele

Einführung zur Ausstellung „Play“ von Ellen Bornkessel, Zeche Zollverein Essen 2013

Wir verlassen nach Einbruch der Dunkelheit das Haus oder steigen aus einem Fahrzeug und schon tauchen wir ein in das Treiben der hell erleuchteten Stadt, werden selbst zu einem Teil des Straßenbildes, das wir vorfinden: Sind wir noch Zuschauer oder sind wir bereits schon Akteure?

Ellen Bornkessels Aufnahmen zeigen die Großstadt als nächtliche Bühne für ihre Bewohner. Die architektonische Umgebung der Semperoper in Dresden bildet den Auftakt zu gleich mehreren Bildern (Das Ereignis, Der Weg, Die Kurve, Die Nachricht): ein großzügig gestalteter Platz, hell erleuchtete Fassaden und ausladende Treppenaufgänge, ganz großes Theater – die Schauseite der europäischen Monopole, Inbegriff kultivierter Architektur und städtischen Lebens. Das meiste ist jedoch spätere Inszenierung nach historischem Vorbild: Die im Krieg zerstörte Semperoper wurde teilweise schon in der Nachkriegszeit wieder aufgebaut, dann originalgetreu 1985 rekonstruiert und mit Beleuchtungsregie wirkungsvoll in Szene gesetzt.

Die Wahl dieses Ortes kann in zweifacher Hinsicht als geradezu programmatisch für Bornkessels Arbeit aufgefasst werden. Ihre Liebe gilt dem Theater, sie hat Probe und Premiere der spektakulären „Promethiade“-Triologie, die in Essen, Istanbul und Athen aufgeführt wurde, fotografisch künstlerisch begleitet.

Unmittelbar an diese Arbeit in Athen schließt Bornkessels Werkzyklus „play“ in Deutschland an: Die Bilder zeigen die nächtliche Stadt einmal als festlich beleuchtete Kulisse, einmal als von Scheinwerferlicht oder Bogenlampen überwachtes Terrain. Und es wird zwar nicht originalgetreu nach und nach wie in Dresden ein komplettes architektonisches Ensemble, wohl aber ein unmittelbar vergangenes Geschehen zeitnah reinszeniert. Die Akteure, die Ellen Bornkessel unterwegs in der Stadt aufgefallen sind, oder deren Räume sie – wie im Fall des Straßenmalers (Der Maler), der Feuerfreunde (Takatuka) und Tangotänzer (Der Tanz) – aufgesucht hat, werden gebeten, das, was sie gerade getan haben oder das, was sie immer tun, für die Kamera zu wiederholen: bei sechs Sekunden Belichtungszeit.

Eine einfache Regel
Diese einfache Regel ermöglicht wie bei jedem guten Spiel komplexe und vielschichtige „Züge“. Man kann, betrachtet man diese Bilder eingehender, einige dieser „Züge“ im Hinblick auf die wechselseitige Durchdringung von Spiel, Bühne, Lebenswelt und Ästhetik ihrer medialen Inszenierung verfolgen.

So kommt nicht nur die Theaterbühne, sondern auch die Ästhetik und Arbeitsweise des Films ins Spiel: Inhaltlich zueinander gehörende Szenen aus – in der Realität geografisch oft weit auseinanderliegenden Schauplätzen – können im Film zu einer kohärenten Raumfolge in der visuellen Fiktion zusammengefügt werden. Etwas Vergleichbares geschieht auch hier: Die Szenen von „play“ müssen nicht notwendigerweise alle in ein und derselben Stadt spielen, um einen Zyklus zu bilden, sondern sie sind in mehreren deutschen Großstädten fotografiert worden, so neben Dresden beispielsweise auch in Köln und Essen.

Zu jeder Schauseite gehört auch die dunkle, dem Glanz abgewandte Seite. Für die Städte heißt das: die Tristesse der Parkhäuser, die unbelebten Plätze der Investorenarchitektur, kaltes Licht, das nicht mehr die Großartigkeit der Stadt feiert, sondern
zur Überwachung, zur Sicherheit und Verbrechensvorbeugung dienen soll.

In der Regel sind auf Ellen Bornkessels Aufnahmen junge Menschen zu sehen, ihre Gestalt ist nicht genau zu erkennen, um so mehr werden sie zur Figur. Sie agieren für ein Kunstprojekt, von dessen Existenz einige tatsächlich erst wenige Minuten zuvor erfahren haben. Sie stellen jetzt das, was sie zuvor unbeabsichtigt oder bewusst in der Lebenswelt getan und dargestellt haben, noch einmal vor Bornkessels Kamera nach. Allerdings nicht ganz 1:1, sondern unter den Bedingungen des Innehaltens und Verharrens, der langen Belichtungszeit. Sind diese Stadtbewohner allein schon damit zu Schauspielern ihrer selbst geworden? Oder waren sie das schon zuvor, weil sie sich mit ihrem eher beiläufigen oder in den meisten Fällen doch recht exponierten Tun in der Öffentlichkeit zeigten? Dazu noch in einer unberechenbaren Öffentlichkeit, die ihnen nicht die Ausnahmebedingungen der umfriedenden Bühne zugesteht? Einer wenig zugewandten Öffentlichkeit, die anders als die Fotografin den ästhetischen, subversiven oder ethnologisch interessanten Wert ihrer Darbietung nicht unbedingt zu schätzen weiß, sondern sie wegen der Inhalte in einigen Fällen sogar in Kategorien von Störung, ja Illegalität wahrnimmt?

Es stellt sich aber auch die Frage nach den Bedingungen des sozialen Lebens im städtischen Raum, der von Menschen für Menschen geschaffen worden ist. Die Stadt kann über Jahrhunderte gewachsen und von Zerstörungen durch Krieg und rücksichtslose Abrisspolitik der Nachkriegsjahre weitgehend verschont geblieben sein, sie kann noch eine historische oder wiederaufgebaute Altstadt, Villengegenden und durchmischte Stadtviertel mit je eigenem Kern und bezahlbaren Mieten unterhalten, das macht sie heute für ihre Einwohner attraktiv. Im weniger glücklichen Fall aber wird aus einer Stadt nach und nach ein austauschbarer, verkehrsgerecht durchgeplanter „NichtOrt“, der sich mit den immergleichen Fußgängerzonen und Geschäftsketten kaum mehr von ähnlichen Orten anderswo unterscheidet. Kann es dann noch ein authentisches Leben im Künstlichen geben? Wie sieht das Lebensgefühl aus, das vor allem junge Menschen in ihre Stadt einzubringen verstehen, das sie wie eine Wildblume zumindest temporär und wie von selbst in ihrer Umgebung keimen, sprießen, vielleicht aber auch wuchern lassen möchten? Und wenn das hin und wieder aus der Perspektive der Akteure tatsächlich gelingen mag, muss nicht auch dann die Rede von Urbanität sein, wenn dieses Tun an einem unwirtlichen Ort geschieht, den sie nach eigenem Gusto, sagen wir mit etwas ungewöhnlichen, also nicht ganz sachgerechten Nutzungsabsichten bespielen? Bedeutet Urbanität über die Wertschätzung von Straßencafés, Ladengeschäften, Flaniermeilen und Parks hinaus nicht auch, dass in der europäischen Stadt im Gegensatz zum sozial überwachten Dorf unterschiedliche Äußerungsformen und Ansichten vom Leben unbehelligt nebeneinander koexistieren dürfen? Und weiter: Bedeutet Urbanität dennoch gerade nicht auch deshalb die Kunst des Maßhaltens, der Austarierung der Interessen und der Rücksichtsnahme?

Solcherlei Gedanken mögen einem in den Sinn kommen, wenn man auf einer Fotografie der Gestalt eines Schwertkämpfers nachgeht, der einer Fassade, die eine Bank oder eine Versicherung beherbergen könnte, mit seiner archaisch anmutenden Waffe in einer formalisierten Kampfpose die Stirn zu bieten vermag (Der Kampf). Oder auch angesichts einer – trotz der noch tristeren Umgebung eines Parkhauses, das mit Decke und Fußboden als geschlossene Schachtel erfasst ist, weitaus heller gestimmten Aufnahme (Die Probe): Zwei Musiker haben sich hier am Rand des Parkfeldes auf dem Boden niedergelassen. Der eine bläst auf einer Trompete oder hält sie auch nur einsatzbereit in der Hand, genau kann man es nicht erkennen, der andere hat eine Trommel hinter sich liegen, sie wirken aufmerksam und obwohl sie einander nicht zugewandt sind, sondern gemeinsam in eine Richtung schauen, wie vertraut miteinander im Gespräch.

Bildregie
Nicht unbedingt als Passant, der an einer solchen Szene vorbei kommt, wenn er sie denn überhaupt zur Kenntnis nimmt, wohl aber als Kunstbetrachter kann man die Frage nach dem Schauspiel der Stadt oder den städtischen Akteuren als Schauspielern in der Architektur, die sie umgibt, auch als ästhetische Frage nach der hier vollbrachten Bildregie stellen. Und damit als Frage nach der Komposition und der Choreographie aufwerfen, die solch städtischen Szenen innewohnen: Die Wahl des Ortes obliegt ja den Akteuren, den bestimmen sie selbst ebenso wie den Radius ihrer Aktion, sei es beim Schwertkampf, sei es beim Tango.

Was sind das für Posen? Sind sie ausschließlich von der Architektur beeinflusst, oder doch auch ganz entscheidend vom Können der Fotografin, die erkennt, wie die Haltung der Körper in Kontrast steht zur Formensprache der Architektur oder sieht, dass jemand in genau dieser Pose die Geometrie des Ortes aufzugreifen, zu spiegeln oder zu kommentieren scheint? So zum Beispiel beim jungen Mann mit übergezogener Kapuze (Die Nachricht), der auf einer groß angelegten Freitreppe sitzt und hantiert, vielleicht auf seinem Handy spielt oder sich eine Zigarette dreht. Er ist umgeben von sorgsam ausgesuchtem Stadtmobiliar, Kopfsteinpflaster, einer historischen Laterne, die ein warmes gelbes, fast goldenes Licht verströmt, einem eisernen Geländer, das vor dem Abschluss in stilisiert floralen Schmuckformen ausläuft. Von hier oben fällt der Blick auf eine auffällig designte gelbe Telefonzelle unten auf der Straße, aus einer Zeit mit anderen ästhetischen Vorstellungen. Sie wird von einem postmodernen schwarzen Häubchen bekrönt, das mit der dunklen Kapuze des Jungen auf dem Foto auf einer Diagonalen liegt und sozusagen im Fotografischen mit seiner Gestalt Zwiesprache hält. Und weshalb nur erinnert die Szene (Der Weg) mit der dunkelhaarigen und der blonden jungen Dame, die in kurzen schwarzen Kleidern, hautfarbenen transparenten Nylons und hochhackigen Schuhen vor einem eingerüsteten Flügel der Semperoper stehen, an ein Filmstill? Wieso hat man hier den Eindruck, das Ganze könnte auch eine Filmstraße sein, die in einem Babelsberger Studio nachgebaut wurde, weshalb denkt man an einen viragierten Stummfilm, in dem, je nach Stimmung die eigentlich in Schwarzweiß aufgenommenen Filmstreifen in Blau, Gelb oder Rot eingefärbt wurden? Hier liegt es wohl an der spannungsreichen Bildkomposition. Die seitlich erscheinende Gebäudefront ist nur in der Schräge angeschnitten, die oberen Stockwerke fehlen ganz, das untere ist vergittert. Der Blick fällt, folgt man dem Verlauf der Fassade, auf eine brückenartige Spange im Hintergrund links. Sie führt wohl zu einem Seitentrakt, den man sehr gut für andere Filmszenen hätte verwenden können – die Straßenlaterne rechts, die diesmal ein hartes Licht wirft und die langen Schatten der jungen Frauen, die auf der Straße stehen, ja die ganze Ausleuchtung (die hier dem Beleuchtungsplan der städtischen Behörde oblag) tragen zu dieser Stimmung bei.

Rückenansichten
Die Stadtszenen bleiben, wiewohl inszeniert und mit allen Beteiligten abgesprochen, so anonym, wie man es dem Großstadtleben zu sein seit dem 18. Jahrhundert gerne nachsagt: Die Menschen sind nicht zu erkennen, in der Regel sieht man sie in Rückenansicht oder verschwommen, so als wollten sie ungestört und unter sich bleiben. Und doch: Gerade dieses schnöde Außen Vorlassen des Betrachters führt ihn um so tiefer in den Bildraum ein, zieht ihn geradezu emotional mit sich. Das hat etwas mit der Geschichte der illusionistischen Malerei zu tun. Hier ist es traditionell die Rückenfigur, die in einer Landschaft oder vor dem Fenster steht, die den Betrachter zur Identifikation einlädt. Wie wir das Bild vor uns, betrachtet auch sie selbst etwas, das vor ihr liegt. Selten sehen wir dann auch genau, was die Akteure auf Ellen Bornkessels Aufnahmen eigentlich tun. Manche stehen einfach rum, alleine, zu zweit oder zu mehreren, Versammlungsfreiheit in der Öffentlichkeit ist ein grundlegendes demokratisches Gut. Einmal sieht man einen Pulk von jungen Leuten, die einen Kreis gebildet haben und eine Aktion verfolgen, die für den Bildbetrachter unsichtbar bleibt (Das Ereignis). Man würde zu gerne wissen, was da los ist – dieses Bild allerdings ist als Einziges nicht nachgestellt, sondern die Fotografin fand die Situation vor und hielt sie fest. Was sich hier vor der Kamera abgespielt hat, ist selbst ihr verborgen geblieben. Ähnlich verhält es sich mit einem Bild, auf dem Wohnwagen sich nebeneinander auf einem Parkplatz versammelt zu haben scheinen, man sieht sie vom Fond aus, nicht von vorn (Warten). Was die Aussicht Besonderes zu bieten hat, falls ihre Bewohner aus dem Fenster schauen sollten, denn fast auf allen sind die Satelittenschüsseln ausgefahren, kann man aus der Aufnahme nicht erschließen. Zwei Lampen fluten mit ihrem weißen Licht den Platz, sie wirken vor dem tiefblauen nächtlichen Himmel wie eine kosmische Erscheinung.

Wie Abschied und Aufbruch wirkt ein Bild (Der Blick), das den Werkzyklus „play“ beschließen könnte. Der Blick schweift über einen sorgfältig gepflasterten Platz, der sich vor einer großzügig angelegten Brücke erstreckt, über die Straßenbahnschienen führen. Einige, wenige Autos sind in der Ferne auszumachen. Auf der anderen Seite der Brücke ragt ein Kirchturm in den Himmel, seine Spitze wird in der speziellen Perspektive der Aufnahme von einem Gewirr von Stromleitungen ummantelt. Sehr helles Flutlicht fällt von links und rechts auf die Szene, einige Passanten verschwinden belichtungsbedingt auf dem Platz, aber eine Dame ist im Vordergrund zu sehen. Sie trägt ein Theaterkostüm, eine helle Jacke mit Schößchen aus brokatähnlichem Stoff, einen Reifrock, eine blonde Perücke mit Hut, auf dem ein roter Klecks aufgebracht ist, gerade so als hätte ihn ein expressiver Maler, mit dem Finger im Nachhinein aufs Bild getupft. Sie hat sich nach uns umgedreht und schaut uns an, lächelnd, und schon sind wir, die wir uns doch zuvor von den Rückenfiguren so willig ins Spiel hineinziehen ließen, ein wenig verunsichert: Dass sie als Schauspielerin eine Figur aus einer anderen Zeit verkörpern soll, daran besteht kein Zweifel. Und auch, dass das niemanden weiter zu kümmern scheint, ist typisch für Stadtbewohner – womöglich handelt es sich noch nicht einmal um eine echte Schauspielerin, sondern nur um eine verkleidete Werbeträgerin, die Konzertkarten verkauft. Und lächelt sie wirklich? Oder ist das nur eine Maske, ein weiteres Spiel im Spiel? Sie bleibt jedenfalls Fremdkörper. Anders als die Akteure, mit denen wir es bisher zu tun hatten, nimmt die Stadt sie in ihrer offensichtlichen Theatralik zwar hin, aber nicht wirklich auf.