Bianca Patricia – Schlaflos in Manhattan: Tradition und Intimität, Bilder eines Berufsstandes

„Dass wir einen Pförtner haben, wußte ich gar nicht und wenn wir einen haben, so muss es der stillste Pförtner der Welt sein, denn ich habe nie etwas von ihm vernommen“, schreibt Adalbert Stifter in einer Erzählung Mitte des 19. Jahrhunderts. Und auch um 1910 ist der Blick auf den Pförtner der Blick auf ein „kleines Metier“ und die mit ihm verbundenen Lebensgeheimnisse. „Der Pförtner Bügelmann“ wird in einem Stück von Oscar Wagner mit dem sprechenden Titel „Der stille Portier. Berliner Lebensbild mit Gesang in einem Aufzug“ als 73 Jahre alt, „stumm, schlichtes weißes Haar, bartloses, freundliches Gesicht in gestrickter Jacke und Schürze“ und somit als unscheinbares Inventar des Hauses vorgestellt. Der Pförtner im Mietshaus und sein weibliches Gegenstück, die Concierge, deren Tätigkeit durchaus auch als Zuflucht für perspektivlose Intellektuelle Anlass zu romantischen Fantasien bieten kann (zum Beispiel im französischen Roman und der Verfilmung „Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barberry, 2006) sind im alten Europa als kleine Berufe in ihrer ursprünglichen Form weitgehend verschwunden. Sind sie so ausgestorben wie die literarische Figur des bildungshungrigen Essigbauers (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser) oder der über den großen Fragen des Kosmos grübelnden, kaum des Lesens kundigen Trödlerin (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 1. Fassung) in der Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts?

Folgt man dem europäisch sozialisierten Blick von Bianca Patricia so feiern diese Figuren möglicherweise ihre zeitgenössische Wiederkehr und Transformation im amerikanischen „Doorman“ der Banken, Firmen und Appartements oder in etwas proletarischerem Umfeld im Kassenhäuschen eines Parkhauses. Letzteren und den livrierten oder doch zumindest sehr gut gekleideten Herren im gestylten, gegenüber den früheren Pförtnerkabuff großzügig geschnittenen Vorraum öffentlicher Gebäude ist der nächtliche Dienst zum Wohle der Kunden gemeinsam. Sie haben körperlich anwesend zu sein und zu „wachen“, während die anderen schlafen. Auch wenn es, wie ein (nicht zuletzt wegen des Titels) erfolgreiches Buch aus den Nuller Jahren des 21. Jahrhunderts von Kathrin Röggla programmatisch für die aufsteigende Business Generation hieß: „Wir schlafen nicht“. Es gehörte eine Weile zum teils selbst auferlegten, teils mit großer Selbstverständlichkeit getragenen common sense und Ehrencodex urbaner young professionals, mit möglichst wenig Schlaf auszukommen, wie einst die großen Heeresführer vom Format eines Bonaparte.
Der amerikanischen Doorman des 21. Jahrhunderts gehört als Rezeptionist und Wachhabender zu den Nachtarbeitern – wie fließend im Einzelnen der Übergang zum security guard oder Türsteher sein mag, wäre eine andere Frage, die zumindest literarisch auch eine andere Tradition hat, wenn man beispielsweise an Kafkas Türsteher denkt und im jüdisch/christlichen Glauben an die Cherubim, die als geflügelte Mischwesen den Eingang zum Paradies und darinnen den „Baum des Lebens“ bewachen.

Intimität
Aber vielleicht sind es auch die Karyatiden gründerzeitlicher Architektur, die als steinernes Mobiliar die Last der Balkone tragen, den Blick in eine unergründliche Ferne gerichtet, zu Zeiten als es die traditionellen Conciergen und Pförtner noch gab, die hier in die Bildsprache der nächtlichen Aufnahmen in Manhattan hineinragen: Eine ganze Reihe von Bildern zeigt die Portiers formal weniger als Menschen am Arbeitsplatz denn als fast schon organischer Bestandteil der sie umfassenden Architektur. Je nachdem, wie minimalistisch kühl oder regressiv floral diese sie umgibt, werden die Menschen – als Figuren in ihre Räume eingelassen – von der Fotografin erfasst. Und so ist man als Betrachter versucht, sich auch ihre, sei es banale, sei es konzentrierte, sei es tiefgründige Gedankenwelt ins Gehäuse dieser so unterschiedlichen Raumhüllen eingebettet, zu imaginieren. Dazu mag auch die Beleuchtung beitragen: Es ist spät abends im Übergang zur tiefen Nacht – Bianca Patricia war zwischen 22 und 3 Uhr in der Nacht unterwegs – die künstliche Helligkeit setzt eine Art Spot auf die erleuchteten Innenräume und auch hier bietet der zufällig und im Vorübergehen erhaschte Blick von außen nach innen einen Zufluchtsraum für Projektionen: Auch wenn es ein kühles oder nüchternes Ambiente ist, in dem man einen Menschen, alleine bei einer Tätigkeit oder beim Hantieren gewahr wird, der spähende Blick von außen erzeugt einen Anflug von Intimität. Das ist eine geradezu altmodische Intimität, eine gedankliche Verbundenheit jenseits der Kommunikation: Hier werden nicht wie beim Skypen durch eine Naheinstellung der Kamera visuelle Nähe erzeugt und im zeitgleichen oder nur leicht zeitverschobenen Betrachten und Sprechen, Mimik, Gefühle, Gesten und Rede auf kleinstem Raum und sozusagen en miniature zusammengeführt, sondern ein Augenblick wird statisch ins Bild gesetzt. Wohnen wir hier also dem „entscheidenden Augenblick“ bei, wie Henri Cartier-Bresson Mitte des vergangenen Jahrhunderts den Zeitpunkt bezeichnet hat, in dem, vom Fotografen erfasst, Figur und tektonische Komposition des Bildes sich zur Aussage zusammenschließen? Suchen wir hier Orientierung innerhalb eines konzeptionellen Ansatzes, der den Denker im nächtlich Wachhabenden mit ästhetischen Mitteln konfiguriert? Oder sehen wir uns dem Entwurf einer Serie gegenüber, in der Bild für Bild, Doorman für Doorman, in der Variation eines Themas und schließlich einer daraus erwachsenden Typologie sich erst die ganze Bannbreite eines Themas erkennen lassen?

Janusköpfig
Das Setting der Fotografin ist, sehen wir, soweit dies möglich ist, von den mitgebrachten kulturellen Sichtweisen und europäischen Traditionen des Pförtnerberufes ab, schnell beschrieben: Ein Mensch sitzt oder steht öffentlich in einer Umgebung, die sein Arbeitsplatz ist und bewacht in einem eigens für diese Tätigkeit bestimmten Vorraum die Schwelle zwischen der Straße und dem Innenbereich des Hauses. Dieser Vorraum repräsentiert mit den Mitteln der Architektur und der Ausstattung die Bedeutung seiner Bewohner oder der Firmeninhaber. Die Stellung des Doorman ist janusköpfig: Er vermittelt den ersten Eindruck, den ein Auftraggeber auf einen Kunden, ein Herrscher auf einen Bittsteller, ein Hausherr auf seinen Gast machen möchte und gleichzeitig entscheidet er auch, wem Zutritt zu gewähren ist und wem nicht.

Je nach architektonischer Vorgabe und kompositorischer Entscheidung der Fotografin kann der Raum, in dem der Portier agiert, ihn als Figur so in der Fläche absorbiert erscheinen lassen, dass er auf der Bildfläche gleichsam zu einem Bestandteil des Mobiliars erstarrt zu sein scheint. So in

© Bianca Patricia: MANHATTAN 22

© Bianca Patricia: MANHATTAN 51

MANHATTAN 22, MANHATTAN 10, MANHATTAN 51, hier sind vom Rezeptionisten nur noch Stirnpartie oder die Aussicht auf einen kahlköpfigen Schädel sowie ein gebeugter Kopf, flankiert von einem angeschnittenen Frühlingsblumenstrauß, hinter einem vorgeblendeten Rezeptionstresen in einem geometrisch durchkomponierten Ambiente auszumachen. Man kann indes nicht sehen, womit sich diese Männer geneigten Kopfes beschäftigen. Auch vor warmem, überbordenden Design des Innenraums wie in MANHATTAN 56 oder inmitten üppig wuchernder Grünpflanzen scheint der Doorman ganz in die Umgebung eingesogen zu sein, selbst wenn er wie der Mann mit schwarzer Baseballkappe in MANHATTAN 37 lässig vor einer Tür zu lungern scheint.

Andere Aufnahmen betonten das Transitorische, die Mittlerfunktion zwischen Innen und Außenraum, indem sie Spiegelungen miteinbeziehen und damit das Exponierte desjenigen, der hinter einem schützenden Gehäuse zu sitzen scheint, betonen. So bei MANHATTAN 5, auf dem man einen schwarzen Portier von der Seite sieht. Er schaut nach unten und scheint der Haltung nach zu schließen, doch ein wenig zu dösen oder zumindest mit der Müdigkeit zu kämpfen, auf dem Flur lässt sich ein Mann ausmachen, der vielleicht unbemerkt vorbei laufen wird oder ebenfalls zum Wachpersonal gehört.

Durch Glastüren, auf deren Metallgriffen, welche als Bänder die gesamte Horizontale durchlaufen, mehrfach die Aufforderung „Pull“ im unteren Drittel steht, blicken wir auf MANHATTAN 12: Auf einer grau mamorierten Wand tanzen Lichtreflexe von grellen Neonschriften und es spiegeln sich in fortlaufender Reihe Lampen. Fast in der Bildmitte taucht, klein wie ein einsamer Spieler, der Kopf eines Mannes auf. Er trägt Brille und sieht so wenig individuell wie seine Umgebung aus. Rechnet, zockt oder spielt er?

Zentralperspektive und Kompartimente
Einige Bilder arbeiten mit der Zentralperspektive, die der Fotoapparat noch verstärkt. So erstreckt sich auf MANHATTAN 48 ein in goldenes Licht getauchter Flur. Rechts und links stehen Portale, die schwarzen Linien am Fuß suggerieren den Schaft von Säulen, ein wiederkehrendes geometrisches Emblem bekrönt den Sturz. Eine gewölbte Decke und eine große Hängelampe schaffen ein fast sakrales Ambiente, der spiegelnde Fußboden indes lässt an die klaustrophobische Situation in Spielhallen denken. Der Blick läuft auf ein Ensemble von gesicherten Türen zu, die Zugang zu einer anscheinend noch weiter in die Höhe ragenden Halle eröffnen. Rechterhand steht ein schmales, wie ein Altar mit einer roten Decke und einem prächtigen Strauß roter Amaryllis geschmücktes Pult, hinter der leicht vornüber gebeugt eine dunkel gekleidete, dunkelhäutige Person wacht. Solche Arrangements beschäftigen die Phantasie.

Ebenfalls sakrale Assoziationen lösen Raum, Körperhaltung und Beleuchtung auf MANHATTAN 46 aus. Wir sehen einen älteren Herrn mit locker aufgeknöpftem Hemdkragen und aufgekrempelten Ärmeln in Dreiviertelansicht, der hinter einer Art Mensa vor einem Schirm aus neun beleuchteten Quadraten steht. Mit ausgebreiteten Armen stützt er sich auf der Tischkante auf, so dass sein Körper ein Dreieck bildet. Vor ihm liegen aufgeschlagene Bücher, man könnte sich vorstellen, dass er eine Rede aufsetzt oder seinen Unterricht vorbereitet.

Eine eher komische Variante der Fluchtpunktkonstruktion haben wir mit MANHATTAN 29 vor uns. Am Ende eines Flurs, der mit Bild an der Wand und Grünpflanzen, einer angeschnittenen Sofaecke im Vordergrund rechts und Glasbausteinen links an Verwaltungsgebäude denken lässt, wird hier nicht das Entrée, sondern der „Exit“ bewacht, von einem älteren, rundlichen Herrn, der mit verschränkten Armen im rechten Winkel zum linken Türflügel Aufstellung genommen hat.

Eine andere Komposition arbeitet mit genauer Raumaufteilung: Wir sehen auf MANHATTAN 3 eine Pförtnerszene, die in einem fotografischen Raum operiert, der optisch in fünf senkrechte Kompartimente gegliedert ist: Linkerhand zieht ein angeschnittenes, ebenfalls durch eine Rasterstruktur gekennzeichnetes, blaues Bild in verschnörkelt goldenem Rahmen im erste Kompartiment die gesammelte Aufmerksamkeit auf sich, erst auf den zweiten Blick schaut man nach unten und erkennt einen aufgeschlagenen Ordner. Es folgt eine Schattenzone, dann sehen wir das Profil eines berufstypisch gekleideten Herrn, der sich, für uns unsichtbar, mit etwas zu beschäftigen scheint; ein hölzerner Empfangstresen, schräg ins Bild gesetzt, schützt ihn vor unseren neugierigen Blicken. Dieser Tresen, der bereits im ersten Bildkompartiment dem Ordner Stütze bieten muss, ragt auch in das vierte Bildkompartiment hinein. Hier sehen wir auf einem Sockel eine schwarze Plastik mit Reitern, bereits unscharf ein weiteres Bild und einen Fußboden mit Rhombenmuster, gerade noch angeschnitten eine große Tür. Rechterhand erstreckt sich dann wieder eine verschattete Zone, die gemeinsam mit der ersten verschatteten Zone den Pförtner, seinen Tresen und die zu bewachenden hinteren Räume einrahmt. Seinen besonderen Reiz erfährt das Bild im Wechselspiel von Versunkenheit, statischem Aufbau der Kompartimente und Dynamik des Reitermotivs und der durchlaufenden, metallisch glänzenden Diagonale am unteren Bildrand, die von einer Tür oder einer Einfassung des Tresens herrühren mag. Dem „Kompartimentverfahren“ begegnen wir auch in anderen Bildern, zum Beispiel in MANHATTAN 6, es verhilft den gezeigten Menschen zu einer starken persönlichen Präsenz.

Renaissanceporträt
Weitere Formen, die Bianca Patricia in ihren Aufnahmen verwendet, sind Bild-im-Bild Formate (MANHATTAN 45, MANHATTAN 34), hier sehen wir den Kabuff des Pförtners wie ein kleines Bild, das in seiner Umgebung eingelassen ist, ein Verfahren, das sich für kleine, räumlich vollständig abgegrenzten Arbeitsplätzen wie beispielsweise in einem Parkhaus eignet, so auf MANHATTAN 34. Hier ist der Ausschnitt des Kabuffs, das frontal einen am Computer arbeitenden Mann zeigt, so flächig in die Gebrauchsarchitektur eingelassen und der Innenraum farbig so stark von seiner Umgebung abgehoben, dass wir fast glauben, es hier mit einer Plakat zu tun zu haben, das von innen im Parkwächterhäuschen angebracht worden ist.

Persönlicher Unabhängigkeit im Dienst begegnen wir bei Menschen, die sich ganz bewusst häuslich niederlassen, was möglich ist, wenn nicht allzu sehr für einen Arbeitgeber repräsentiert werden muss. Auf MANHATTAN 11 hat sich ein Herr – vielleicht ein Latino? – Sitzgelegenheit und als Tisch fungierenden Kunstlederhocker vor sein Parkkabuff gestellt, mit übereinander geschlagenen Beinen und abgelegtem Jackett, wenn auch jederzeit dienstbereit, residiert er vor der Einfahrt, die auf der linken Bildhälfte zu sehen ist. Der Herr ist frontal aufgenommen und dominiert die rechte Bildhälfte, angeschnitten am Rand sieht man seinen Kabuff.

Mehr ins Bild eingelassen (MANHATTAN 52) ist ein Mann, der an einem kleinen Tisch inmitten einer Baustelle vor einem Gebäude sitzt, man könnte indes auch an eine Werkhalle denken, man sieht ihn in der Bildmitte, auf der linken Seite sind Behälter und Gerätschaften zu sehen, vor ihm Verpackungsmüll, man erkennt auf seinem Tisch eine Flasche mit einem Getränk, er wirkt in diesem Umfeld recht intellektuell.

Es mag seinen Grund im Renaissanceporträt haben, das eine Figur im Halbprofil und Dreiviertelansicht neben oder vor einem Fenster zeigt, das auf eine Landschaft weist, dass die Aufnahmen, welche einen Wachhabenden solcherart im Raum positionieren (der kein Fenster haben muss), den so gesehenen Menschen selbstbewusst erscheinen lassen. Bei Bianca Patricia lässt sich hier ein Unterschied zwischen rechts und links ausmachen, steht der Porträtierte links funktioniert das – vielleicht mögen Dürers Selbstbildnis oder Ghirlandaios „Alter Mann und Enkel“ im kollektiven Bildgedächtnis ihre Hand darüber halten – besonders gut. Sehen wir die Menschen rechts und nehmen sie nur einen Teil der Bildhälfte ein, wirkt das zwar immer noch recht souverän, aber es ist doch nicht das Gleiche. (MANHATTAN 24, MANHATTAN 4). Hingegen funktioniert die Raumbeherrschung, beachtet man das rechts/links Verhältnis sogar bei einem greisen Herrn (MANHATTAN 15) oder einem eher gemütlich wirkenden Mann (MANHATTAN 21) mittleren Alters.

Mit dem gut aussehenden, wach in die Welt blickenden jungen Mann indes (MANHATTAN 53), welcher, mit Krawatte, weißem Hemd und großer Uhr adrett gekleidet, die Hände in den Hosentaschen, die linke Bildhälfte auszufüllen weiß, während rechterhand eine Zimmerflucht zu sehen ist, die durch die Seitenkante einer offenstehenden Tür wie durch einen Rahmen begrenzt wird, scheint einem, ungeachtet der zeitlichen Differenz, in nachdenklicher Selbstgewissheit tatsächlich ein Mensch aus einer anderen Epoche entgegenzutreten.

Dieser Beitrag wurde im Ausstellungskatalog Bianca Patricia MANHATTAN Fotografie veröffentlicht. Herausgeber: Janzen Galerie, Düsseldorf, Bayreuth 2015