Essays, Kritiken und Fotobuchrezensionen von Andrea Gnam. Erstveröffentlichung in NZZ, SZ, Mare, Photonews, Eikon oder Deutschlandfunk. Blog seit 2012.
Betrachten wir ein Bild, so werden wir in einen anderen Raum hinein versetzt, da wir stets mehr sehen als nur das Materielle, mehr als die Farbe auf der Leinwand oder Kohlespuren auf Papier.
Frau in blauem Kleid, 2021, 180x120cm
Tibor Pogonyi lockt uns in diesen Raum mit seinem malerischen Können, seinem Stil, der unsere Sinne wie unseren Gedankenflug gleichermaßen anspricht. Seine menschlichen Figuren sind voller Bewegung – und doch verhalten, wir meinen sie zu kennen – und doch wieder nicht. Das mag damit zu tun haben, dass sie in Komposition und Körpersprache an klassische Bilder der alten Meister erinnern. Wir haben dabei nicht unbedingt spezielle Bilder oder Künstler, noch nicht einmal eine bestimmte Zeit vor Augen, vielleicht denken wir am ehesten an die Renaissance, aber auch Rubens schaut uns über die Schulter. Es ist eher eine Synthese, all dessen, was wir selbst gesehen, gelesen und erfahren haben, und Resultat dessen, was Tibor Pogonyi mit seiner Malweise als Raum der Erinnerung vor uns entfaltet.
Nichts wäre verkehrter, als Katja Petrowskajas wunderbar poetische Kolumnen zu auf Papier abgezogenen Fotografien allzu schnell lesen zu wollen. Beim sportlichen Versuch des flotten Durchlesens gingen dem Leser zu viel Feinheiten, zu viel thematischer Reichtum, zu viel fein gesponnene, aus der Kunst- und Fotografiegeschichte gespeiste Assoziationen verloren. „Das Foto schaute mich an“ ist ein Buch für die zeitenthobene, allabendliche Lektüre. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja beginnt meistens damit, zu erzählen, wo ihr die Fotografie, über die sie berichten wird, erstmals begegnet ist, ob bei einer Ausstellung, im Familienalbum oder ob gar der Zufall sie ihr in die Hände gespielt hat. In welchem Moment trifft man auf eine Fotografie, wie begleitet sie einen, auf welche Art und Weise führt man sie mit sich herum? Im zweiten Schritt lässt sie uns, geschult an Roland Barthes, daran teilhaben, was sie beim Betrachten einer Aufnahme besonders bewegt. Das kann privat und dabei, da sie in der Ukraine aufwuchs und in Moskau studierte, hochpolitisch sein, aber auch von kunstgeschichtlichen Reminiszenzen getränkt. Oft werden dabei Diskussionen und Themen, die in der Fotografiegeschichte immer wieder von Neuem aufgegriffen wurden, angetippt.
Das bei Seltmann Publishers erschienene Fotobuch Kapellenschulen – Chapels Schools – Auf den Spuren der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI. erschien 2022. Mit Beiträgen von Dr. Andrea Gnam, Dr. Stefanie Siedek-Strunk, Isabell Eberling, Chiara Manon Bohn und Thomas Kellner
Thomas Kellners Werkkomplex lädt dazu ein, mit dem außergewöhnlichen Blick auf architektonische Details, auf die Gesamtgestalt, die Maßverhältnisse und Proportionen der fotografischen Neuformulierung, Interesse für die Mühen und die Bedeutung des Bildungswesens im ländlichen Raum zu wecken, welches ja den kulturellen Hintergrund, den „Humus“ des architektonischen Phänomens Kapellenschule bildet. (Auszug aus meinem Begleittext „Kappellenschulen: künstlerische Reflexion einer ländlichen Tradition“ im Buch)
Der Fotograf Andy Scholz unterhält einen Podcast „Fotografie neu denken“. In der 103. Folge vom 7. Dezember 2022 unterhalten wir uns über Bücher, Literatur, Bilderwelten und mein Buch „Vom Reiz der Peripherie“.
Umfangen von Hochnebel und verhaltenen Sonnenstreifen, die über die alpinen Steilwiesen streifen, liegt, an den Hang geschmiegt, der Südtiroler Hof „Gspell 111“. Ihn gibt es schon seit Jahrhunderten, ein dreistöckiges, verputztes Steinhaus, innen holzvertäfelt, angrenzend eine große Scheuer. Die Bewohner sind Bergbauern, ein älteres Ehepaar, einer der vier Söhne ist auf dem Hof geblieben, die Frau verbrachte die Wintermonate mit den schulpflichtigen Kindern unten im Tal. Roland Reinstadler, dessen Vater in der Nachbarschaft aufgewachsen ist, und der im Lauf der Arbeit weiteren familiären Verflechtungen nachspürt, hat die Drei über das Jahr bei Arbeit, Haushalt und Andacht fotografisch begleitet.
Im vorigen Jahrhundert wurde von abstrakt arbeitenden Künstlern wie Kandinsky, Malewitsch und später dann Barnett Newman intensiv über Freiheit und Verantwortung des Künstlers nachgedacht. Man griff mit seiner Wortwahl nach den Sternen, fühlte sich Gott oder dem Kosmos nahe, oder zumindest der reinen Empfindung – und all das, weil man sich in seinen Bildern nicht länger auf klar zu erkennende Gegenstände beziehen wollte, sondern Anderes mitzuteilen hatte. Fotografen hingegen besannen sich mit den Überlegungen zur reinen Fotografie auf die Vorzüge des Mediums, von dem man zu Beginn ja dachte, dass nicht Gott, aber doch die Natur in Gestalt der Sonne neben der Technik den Löwenanteil am Zustandekommen des fotografischen Bildes einnehmen würde. Und gleichzeitig reklamierte man eine Erkenntnis für sich, die sehr weltlich orientiert ist, sich sozusagen in den Niederungen des gesellschaftlichen Handelns bewegt, aber zugleich auch eine große, ja heroische Geste impliziert: Jeder Fleck in einer Stadt sei ein Tatort und Aufgabe des Fotografen wäre es, bei seinen Aufnahmen die Schuldigen zu benennen, so formulierte es Walter Benjamin 1931.
„Vom Reiz der Peripherie. Architektur und Fotografie“ 131 S., 11 Abbildungen mit Fotografien von Joachim Schumacher, Gerhard Vormwald, Inge Rambow, Jean Claude Mouton, Christian v. Steffelin, Philipp Meuser, Loredana Nemes, Ralf Schmerberg, Elger Esser, Julia Kissina, Karsten Hein, 24.80 €
ISBN 978-3-8030-3420-5, Berlin 2022
bestellbar und erhältlich im Buchhandel
Peripherie zeigt unterschiedliche Gesichter: Oft ist sie nur Resultat achtloser Planung. Manchmal indes begegnen wir innerstädtisch wachsender Peripherie in einem Zustand der Schwebe, in welchem Altes in Neues übergehen kann – ein Zwischenreich noch unausgeschöpfter Möglichkeiten fern des Zwanges zur ästhetischen Optimierung. Fotografie weiß Dinge zu zeigen, die wir ohne sie nicht sehen würden. Ganz besonders berührt uns das in fotografischen Arbeiten, die sich dem eigentlich Vertrauten widmen, der Peripherie, den Plattenbauten, Städten im Ruhrgebiet, dem strukturschwachen ländlichen Raum, dem Alltag in Deutschland, wie ihn Dokumentarfotografinnen sahen, die noch als Kind den Weltkrieg erlebt hatten.
All dies, mit einem Exkurs zu Blinden in der Fotografie, zeigt Kapitel für Kapitel welche Bedeutung architektonisch gestalteten oder vernachlässigten Räumen in unserem Leben zukommt, wie sie unsere Erinnerung bestimmen und welche wichtige Rolle hier die Fotografie einnimmt.
Eine schöne und informative Rezension von Michael Kröger zu meinem Buch „Vom Reiz der Peripherie“ befindet sich im Kunstbuchanzeiger.
Eine wunderbare Rezension von Ruth Asseyer befindet sich auf Kulturport.de.
Christian Holl empfiehlt in „Marlowes“ (Online-Magazin für Architektur und Stadt) in seiner Besprechung Stadt lesen, Stadt sehen unter anderen mein Buch.
In einer Sendung Büchermarkt des Deutschlandfunks werden in einem Gespräch zwischen Wiebke Porombka und Stefan Koldehoff Veröffentlichungen von Peter Bialobrzeski und mir vorgestellt.
Auf der Website mit Rezensionen des Instituts für Theater, Film und Medienwissenschaft der Universität Wien stellt David Krems kenntnisreich das Buch vor („Wer sich mit Fotografiegeschichte beschäftigt, kommt daran nicht vorbei“).
In einen sehr aufschlussreichen und interessanten Zusammenhang stellt Niklas Maak mein Buch in seinem am 19.11.2023 in der FAZ erschienenen Beitrag „Neue Heimat“: F-A-S-19.11.202334-Neue-Heimat-Niklas-Maak.pdf
Einen atemberaubenden fotografischen Streifzug durch die Moskauer Untergrundbahn bietet Katharina Gruzei mit ihrem Fotobuch „Mir Metro“.
Ihr durchdacht gestaltetes, ja geradezu rhythmisch getaktetes Buch zeigt Aufnahmen, die zwischen 2008 und 2020 entstanden sind. Historische Fotografien in Schwarz-Weiß und glänzend geschriebene Essays zur Baugeschichte und zum utopischen Potential der Metro in der früheren Sowjetunion begleiten die Farbbilder. Ihre Fülle ist überwältigend, wir bewegen uns mit ihnen durch die Architekturgeschichte der Stationen und Pavillons, die vom Pomp bei Material und Ausstattung zur Stalinzeit über zurückhaltende Ornamentik bis hin zu kühnen Deckenkonstruktionen reicht.
Dinge – Erinnerungen und ihre Gegenstände bei Tageslicht
„Das tut es doch noch“, pflegten ältere Leute gerne zu sagen, wenn es darum ging, ob ein Gegenstand, mit dem man gerne hantiert hat, auf einmal durch einen neuen, cleanen und moderneren ersetzt werden sollte. Und oft hatten sie mit ihrem Beharren auf dem Bewährten recht, denn nicht immer ist das Neue, auch das Stabilere oder Formschönere. Gegenstände, die das Zeug dazu haben, uns ein Leben lang zu begleiten, wachsen uns ans Herz, auch wenn wir es erst spät bemerken.
Nach „Innenwelten“, einem Band, der sich Wohnungen von Rumänen und Exilrumän*innen widmet und einer Arbeit über Interieurs im Iran, wendet sich Beatrice Minda in einem weiteren Werkkomplex Innenräumen zu, die unserem Auge fremd anmuten.
Mit „Dark Whispers“ bekommen wir Einblicke in Behausungen auf Myanmar, das Beatrice Minda kurz vor dem Militärputsch bereiste. Der Begriff „Behausung“ beschreibt am besten, was wir im vom Kolonialismus und Militär geplagten Land, dem einstigen Burma, zu sehen bekommen: Es sind einfache, aus Bambus geflochtene Hütten, aber auch heruntergekommene Villen von ehemals wohlhabenden Händlern und Farmern aus England, China und Indien. Weiterlesen →