Gspell 111. Bergbauern in den Alpen – die letzten ihrer Art

Umfangen von Hochnebel und verhaltenen Sonnenstreifen, die über die alpinen Steilwiesen streifen, liegt, an den Hang geschmiegt, der Südtiroler Hof „Gspell 111“. Ihn gibt es schon seit Jahrhunderten, ein dreistöckiges, verputztes Steinhaus, innen holzvertäfelt, angrenzend eine große Scheuer. Die Bewohner sind Bergbauern, ein älteres Ehepaar, einer der vier Söhne ist auf dem Hof geblieben, die Frau verbrachte die Wintermonate mit den schulpflichtigen Kindern unten im Tal. Roland Reinstadler, dessen Vater in der Nachbarschaft aufgewachsen ist, und der im Lauf der Arbeit weiteren familiären Verflechtungen nachspürt, hat die Drei über das Jahr bei Arbeit, Haushalt und Andacht fotografisch begleitet.

Es ist ein kenntnisreicher und freundschaftlich verbundener Blick, nicht die schnelle und bei temporärer Nähe doch oft unverbindlich bleibende Reportage, sondern eine warmherzige Hommage „an die letzten ihrer Art“. Man sieht es an den Farben, dem Nachspüren des Lichtes, der behutsamen Blickführung, der Wahl der Szenen. Das sorgfältig gestaltete Buch zeigt auf dem Vorsatzpapier einen Kupferstich der Gegend (Gebirgstal Passeier), einer Publikation aus dem 18. Jahrhundert entnommen, der Nachsatz eine historische Landkarte, auf der die Lage des Gspellhofs inmitten der Gebirgszüge und der Nachbarhöfe eingezeichnet ist. Schwarz-Weiß gehalten ist auch das Umschlagfoto, das Hof und Scheuer im Winter vom Tal kommend zeigt, um so intensiver wirken dann die farbgesättigten Aufnahmen im Buch. Wir sehen gleich auf dem zweiten Foto den älteren der beiden Bergbauern, er blickt vom Balkon aus auf das Tal, sein vom Wetter gefurchtes Gesicht und die Maserung des Holzes auf der Brüstung unterlagen den gleichen Einflüssen, er ist trotz seines Alters und des kargen Lebens indes noch kaum ergraut. Seinen Sohn, der gemeinsam mit dem Vater ganzjährig den Hof bewirtschaftet, sieht man auf dem folgenden Foto durch das vergitterte Fenster einer Stalltür, Kopf und Brustansatz sind wie auf einem klassischen Porträtbildnis zu sehen, er schaut nach draußen – die Planken der Holztür sind so um das Fenster angeordnet, dass sie eine Art Strahlenkranz um das Fenster mit seinem Kopf bilden.

Die Sternsinger haben über ihm am oberen Rand mit CMB und der Jahreszahl „signiert“. Religiöse Traditionen prägen den Alltag, der in vielem sich nicht allzusehr von dem der Vorfahren unterscheiden wird. Auch wenn ein paar neue Kommunikationsgeräte auch auf dem Gspellhof Einzug gehalten haben, gekocht wird noch am gusseisernen Holzofen, die Wände in der Küche sind vom Ruß geschwärzt. Eingekauft wird in großen Vorratsrationen, gelagert auf wachstuchbezogenen alten Holztischen, der alte Bergbauer werkelt wie ein sanfter Dämon am zischenden Herd, eine archaisch anmutende Szene.

Selbst wenn Sonnenlicht durch das mit Geranientöpfen geschmückte Sprossenfenster fällt, bleibt der niedrige Raum dunkel. Es gibt auch eine von zwei Fenstern über Eck lichtdurchflutete gute Stube, mit Herrgottswinkel, Zimmerpflanze und hellen Vorhängen, mit einem traditionellen Muster bedruckt, ein behaglicher Rückzugsort. Im Zimmer des Sohnes treffen sich zwei Bildwelten: Gerahmte Andachtsbilder von Heiligen mit flammendem Herzen schmücken die eine Zimmerwand, Ausschnitte mit zwei hübschen jungen Damen aus Illustrierten, Postkarten und ein Stofftier sind an die andere Wand gepinnt. Die Arbeit der Bauern verlangt viel Körpereinsatz, vor allem das Heuen, das traditionell gemacht werden muss. Ein Huhn wird geschlachtet, ein Schaf geschoren, die Kühe im Stall, dem Melkschemel und dem Eimer nach zu schließen, noch von Hand gemolken, Holz ist für den Winter gestapelt, Mist wird ausgebracht, das Bild erscheint von den zerkleinerten und verwirbelten Partikeln wie von schwarzem Schnee verwirbelt, Baumstämme werden auf einem selbst gefertigten Holzschlitten talaufwärts gezogen, die Arbeit ist anstrengend, gibt das Leben in der Natur während der Ruhepausen die nötige Kraft zurück?

Roland Reinstadler: Gspell 111. Bergbauer in den Alpen – die letzten ihrer Art. 111 S., Kehrer Verlag 39.90€

Zuerst erschienen in PHOTONEWS Nr. 9/22 – September 2022