Im vorigen Jahrhundert wurde von abstrakt arbeitenden Künstlern wie Kandinsky, Malewitsch und später dann Barnett Newman intensiv über Freiheit und Verantwortung des Künstlers nachgedacht. Man griff mit seiner Wortwahl nach den Sternen, fühlte sich Gott oder dem Kosmos nahe, oder zumindest der reinen Empfindung – und all das, weil man sich in seinen Bildern nicht länger auf klar zu erkennende Gegenstände beziehen wollte, sondern Anderes mitzuteilen hatte. Fotografen hingegen besannen sich mit den Überlegungen zur reinen Fotografie auf die Vorzüge des Mediums, von dem man zu Beginn ja dachte, dass nicht Gott, aber doch die Natur in Gestalt der Sonne neben der Technik den Löwenanteil am Zustandekommen des fotografischen Bildes einnehmen würde. Und gleichzeitig reklamierte man eine Erkenntnis für sich, die sehr weltlich orientiert ist, sich sozusagen in den Niederungen des gesellschaftlichen Handelns bewegt, aber zugleich auch eine große, ja heroische Geste impliziert: Jeder Fleck in einer Stadt sei ein Tatort und Aufgabe des Fotografen wäre es, bei seinen Aufnahmen die Schuldigen zu benennen, so formulierte es Walter Benjamin 1931.
Aber schon ganz zu Beginn der Fotografiegeschichte schwingt das Motiv des Tatorts unterschwellig mit: Henry Fox Talbot hat im ersten Fotografiebuch überhaupt (The pencil of nature) in der Beschreibung seiner Aufnahme eines Pariser Boulevards eine von oben gesehene Straßenansicht so spannend beschrieben, das man nicht nur die Spuren der Aktionen, die der Aufnahme vorangingen und die man mit etwas Fantasie auf dem Bild noch erkennen kann, vor seinem geistigen Auge sieht, sondern auch den Eindruck hat, eine am Straßenrand wartende Pferdekutsche könnte im nächsten Augenblick Staffage oder Fluchtvehikel bei einer kriminellen Aktion sein.
Die der Lebenswelt zugewandte Seite der Fotografie überstrahlte bald die vielen anderen Möglichkeiten fotografischer Abstraktion oder künstlerischer Erkundung. Und es dauerte seine Zeit, bis man fotografische Arbeiten als ein Zeitdokument mit einer gesellschaftlichen Aufgabe begriff, aber sie auch – selbst, wenn vielleicht gar nicht sofort intendiert – mit einer persönlichen Aussage des Fotografen oder der Fotografin verband, die in künstlerischen Kontexten betrachtet und analysiert werden kann.
Inwiefern sind Fotograf*innen verantwortlich für die Bilder, die sie hinaus in die Welt schicken? Sind sie noch mehr als Künstler, die mit Malerei oder Skulptur arbeiten (und deren Werke seit dem Aufkommen des Kupferstichs im 16. Jahrhundert reproduktionsfähig sind) dafür verantwortlich, wo und wie sie rezipiert werden? Und welche Folgen das haben könnte? Ein Maler oder Bildhauer kann immer darauf verweisen, dass das Original an seinem Ort angeschaut werden sollte, wenn es darum geht, auf welche Weise er sein Werk rezipiert wissen möchte. Und lange hieß es in Kunstgeschichtsseminaren: Erst das Betrachten des Originals ermöglicht das richtige Sehen. Die Fotografie ist seit Henry Fox Talbot ein Medium, das auf Reproduktion angelegt ist. Es sendet seine Botschaft wie eine Flaschenpost in die Welt. Kann und sollte man die Vorzüge des auf seine Weise zutiefst demokratischen Mediums selbst gesetzten Regeln unterwerfen? Filmschaffende haben diese Möglichkeit zum Teil, z.B. wenn der Regisseur verfügt, dass seine Filme in bestimmten Ländern nicht gezeigt oder nur in kommunalen Kinos vorgeführt werden sollen. Fotograf*innen haben sich – mit der Agentur Magnum als Vorreiter – grundlegende Rechte an ihren Bildern auch nach dem Abdruck erstritten, zum Beispiel was die Weitergabe angeht. Noch Robert Doisneau hatte ein Problem – Gisèle Freund schilderte den Vorgang – dass seine Agentur eine Aufnahme, die einen Herrn und eine junge Frau an einer Theke im Bistro zeigten, und die zuerst für einen Artikel über Bistros abgedruckt wurde, weiter verkaufte an eine Zeitschrift, die es zur Illustration von Trunksucht verwendete, von einem Raubdruck in noch heikleren Kontexten ganz zu schweigen. Heute ist das Recht am eigenen Bild präsenter.
Gefährdung anderer
Aber wie sieht es aus, wenn ein Fotograf sich längere Zeit im Zuge eines künstlerischen Langzeitprojektes in politische Gruppierungen, indigenen Gemeinschaften oder Randgruppen bewegt, so ihr Vertrauen gewinnt, sie begleitet, eine Weile mit ihnen lebt? Für eine Buchpublikation kann das Einverständnis eingeholt werden, aber die Bilder verbleiben nicht unbedingt im einigermaßen geschützten Kosmos der Fotografieinteressierten. Schnell ist ein Handyfoto angefertigt, hat der Buchtitel oder eine Rezension die falschen Leute auf die Arbeit aufmerksam werden lassen, auch der Zufall kann unglücklich in die Quere kommen. Und hat man zum Beispiel ausdrucksvolle und erkennbare Porträts von regimekritischen Rebellen als künstlerisches Projekt aufgenommen, kann das, je mehr sie das Wesen der Person trifft, auch wenn das an einem sehr abgelegenen Ort geschehen ist und die Buchpublikation nur in Deutschland erscheint, schneller als man denkt für die so Porträtierten zur sehr realen Gefahr werden. Und sollte einem nicht besonders daran gelegen sein, gefährdete Menschen, die man mit ihrem Einverständnis fotografiert hat, die aber womöglich die digitalen Gefahren unterschätzt haben, besser schützen? Die neuen Medien und die globale Verbreitung stellen ganz andere Anforderungen an die Verantwortung von Fotograf*innen, Künstler*innen und Kurator*innen.
Instagram u. Facebook
Und wie steht es um die Präsenz von Fotografen oder Museen auf Instagram oder Facebook? Ist die Art und Weise, wie auf Instagram Bilder in einem vorgegebenen Raster schnell rezipiert werden, ein Rezeptionsprozess, den man als Fotograf fördern möchte, indem man seine Bilder einstellt (mit der Begründung, das sei die neue Zeit, man erreiche sehr viele Leute und es trüge zur Demokratisierung bei) oder tut man seinen Bildern und dem Medium damit keinen Gefallen? „Auf Instagram erkennt niemand, ob ich sehr viel Aufwand in ein Bild hineinstecke oder nur einen Schnappschuss mit ein paar Filtern mache. Mein Bild und der Schnappschuss stehen nebeneinander in der Timeline in unmittelbarer Konkurrenz“, gibt der Fotograf Rupert Warren gegenüber ver.di zu bedenken.
Sollte man auf Facebook agieren, bei einem Konzern, der von einem Skandal zum nächsten taumelt? Sollte man als Veranstalter Vorträge von Fotografen, die ihre Arbeiten vorstellen, streamen und dann als Dauereinstellung im Netz von überall her zum Abruf freigeben? Dürfen Museen als Zugangsvoraussetzung zu Tagungen und Vorträgen vorab von allen Beteiligten die Einwilligung verlangen, gefilmt und über Facebook gestreamt zu werden? Lädt man damit nicht allen Vortragenden eine Verantwortung für die gezeigten Bilder auf, die sie so gar nicht auf sich nehmen können? Und sollten nicht auch Fotografen so sorgfältig wie sie ihre Galerie oder Autoren ihren Verlag auswählen sich genau überlegen, wie sie mit den digitalen Medien umgehen, gerade im 21. Jahrhundert? Überschätzen sie sich nicht oft, wenn sie behaupten, die Technik der sozialen Medien sei neutral und es gelte sie zu ihrem Vorteil oder zum Vorteil der Fotografie zu nützen?
Wir sind mit der Digitalisierung und den sozialen Medien in eine Ära eingetreten, in der tatsächlich die Fotografie zum Tatort werden kann, auf eine Weise, die nicht, wie Walter Benjamin das seinerzeit vorschlug, durch klärende Beschriftung der Bilder durch die Fotografen gelöst werden kann, der die „Schuldigen“ benennt. Selbst wenn man einen falschen Ort oder ein unzutreffendes Datum für die Aufnahme angibt (was man aus anderen Erwägungen nicht tun sollte) löst sich das Problem nicht. Bedeutet das, dass bestimmte Langzeitprojekte, die Randgruppen oder politisch Widerständige umsichtig begleiten, anders realisiert werden sollten als bisher? Viele Fotografen haben sich ja auch darüber bereits Gedanken gemacht, man kann den Schutz der Personen sogar als eine eigene künstlerische Anforderung begreifen, Menschen und Situationen, vielleicht sogar Wohnorte, heute anders zu fotografieren als man das vor Jahrzehnten in einer ganz anderen medialen Situation tat. Das heißt nicht, dass man jetzt nur noch in der Straßenfotografie Menschen von hinten fotografieren sollte, es gibt gerade in der künstlerischen Fotografie ja viele Möglichkeiten von Unschärfe, Verschattung, ungewöhnliche Perspektiven und mehr oder auch einfach nicht gleich zu veröffentlichen. Vieles entwickelt seinen Charme und seine zeitgeschichtliche Bedeutung ja auch ganz besonders aus dem historischen Abstand, was manch ein Fotograf, der auf sein eigenes Archiv schaut, vielleicht bestätigen kann?
Zuerst erschienen in PHOTONEWS Nr. 9 – September 2022