Johannes Gramm: Dinge

Dinge – Erinnerungen und ihre Gegenstände bei Tageslicht

„Das tut es doch noch“, pflegten ältere Leute gerne zu sagen, wenn es darum ging, ob ein Gegenstand, mit dem man gerne hantiert hat, auf einmal durch einen neuen, cleanen und moderneren ersetzt werden sollte. Und oft hatten sie mit ihrem Beharren auf dem Bewährten recht, denn nicht immer ist das Neue, auch das Stabilere oder Formschönere. Gegenstände, die das Zeug dazu haben, uns ein Leben lang zu begleiten, wachsen uns ans Herz, auch wenn wir es erst spät bemerken.

Der Fotograf Johannes Gramm berichtet in seinem Fotobuch über „Dinge“ Ähnliches über seinen Urgroßvater: Ihm fehlte als Tischler ein Finger. Als Kind sieht man das zwar, aber dass er nur vier Finger an der einen Hand hat, gehört zum Großvater, also ist es normal. Johannes Gramm, im Ruhrgebiet aufgewachsen, hat die Dinge fotografiert, die samt ihrer Geschichte im Familienbesitz überlebt haben, und einige Spielsachen aus der eigenen Kindheit oder Alltägliches aus der Zeit des Heranwachsens. Vor grauem Hintergrund aufgenommen, erkennt man, dass Grau, je nachdem mit welchem Licht und welchem Gegenstand kombiniert, eine Mixtur aus vielen Farben ist. Gehört man wie ich, fast der gleichen Generation an wie der Fotograf, ergeht es einem bei manchen Dingen wie beim Stöbern in fremden Familienalben. Was sehr individuell aussieht und vielleicht sogar aufbewahrt wurde, weil eine ganz besondere Erinnerung daran hängt – Christian Boltanski hatte das mit einer Wandinstallation mit Fotografien aus verschiedenen Familienalben einer Zeit zu unterschiedlichen Anlässen sehr schön gezeigt – ist viel kollektiver als es im ersten Augenblick aussieht. Und selbst Gebrauchsspuren oder auch die kleinen Texte mit Erinnerungen zu den Menschen, denen sie gehörten oder dem Jungen, der er einmal war, die Johannes Gramm am Ende zu den Aufnahmen beifügt, ändern daran nur wenig.

Der eingangs zitierte Satz kam mir in den Sinn als ich das Foto eines Schuhanzieher an einer Schnur betrachtete und es war wohl eine kollektive Erinnerung, denn Gramm weiß über die Großtante, der er gehörte, oder war es doch eine andere Tante gleichen Namens? später zu berichten, dass ihr klimatischer Fußabdruck, sehr klein war. Manches betrachtet man tatsächlich auch heute anders, es ist nicht mehr die wunderliche Sparsamkeit alter Leute, sondern eine geradezu vorausschauende Klugheit, die sie an den Dingen festhalten ließ. Ein Reisewecker, ein Taschenmesser, ein Zollstock, viele nützliche Dinge braucht man, solange sie ihren Dienst tun, tatsächlich nicht zu ersetzen, aber gerade das sind Lernprozesse. Manche Gegenstände sind in leichter Unschärfe belassen, als wenn die Erinnerung sie ein wenig ferner rückte, wieder andere geradezu haptisch zu greifen in ihrer Farbigkeit. Das gilt vor allem für warme Farben, Bernsteintöne, sei es tatsächlich bei der Kette aus Bernstein, dessen Entstehungsgeschichte Kinder fasziniert, oder beim Badeschwamm. Schöne Lichtreflexe geben manchen Kugeln einen Hauch altmeisterlicher Malerei, bei wieder anderen Objekten, möchte man Adjektive oder Vergleiche erfinden: zwei treuherzige Weihnachtsbaumkugeln, ein schnippischer Löffel, ein nachdenklicher Emailletopf, eine Kaffeekanne, einem Comic entstiegen, ein unternehmungslustiger Knirps. Manchmal allerdings hätte man den Aufmarsch der Dinge gerne ein wenig gestoppt, es sind gar zu viele und das kann auch zum allzu raschen Blättern verleiden, gut Ding braucht Weile.

Johannes Gramm: Dinge – Erinnerungen und ihre Gegenstände bei Tageslicht, 400 Seiten mit 320 Farbabbildungen, Texte von Christiane Kuhlmann, Hein Goemans, 19,5 x 13 cm, Hardcover, Fotohof Edition 2021, ISBN 978-3-903334-19-9, 30€

Zuerst erschienen in: Photonews Nr.. 9/21 – September 2021