Waldsaum, saumselig, Hain, Lichtung, Waldschlag, Wegrand, Forst, wogende Halme, Lichtflecke – man müsste sehr viele, halb vergessene Wörter ausgraben, um die nüchtern erwägende und doch hingebungsvolle Stimmung einzufangen, die Amin El Dib in seinem in himmelblauen Leinen gebundenen Buch „Under skies of Blue and grey“ festhält. Mit grauem Vorsatzblatt und haptisch aufgesetzten weißen Lettern auf dem Cover lässt das im Berliner Peperoni Verlag erschienene Buch gleich an den wolkendurchzogenen Himmel vieler Kindheitssommer denken. Weiterlesen
Archiv des Autors: agk
Der Corviale lebt!
Im Vordergrund wird eine Rasenanlage mit einer zottigen Schafherde beweidet, rechts und links beschneidet der Bildrand bei einem der Tiere den Kopf, bei den anderen Rücken und Hinterläufe. Ein einzelnes Schaf trottet in der Mitte, während am Horizont ein langgestreckter Flachbau einen Riegel bildet. Hellblau, mattes Grün, verhaltenes Grau sind die Farben, während ein sonnengelber Längsstreifen den Buchrücken markiert: „Corviale“ heißt in denkbarer Schlichtheit das Fotobuch des Österreichers Otto Hainzl der sich dem Leben innerhalb der archtektonischen Vorgaben des riesigen, am Stadtrand von Rom gelegenen Wohnkomplexes widmet. Weiterlesen
Rosemarie Zens: Wellenberge des Erinnerns
Die Flucht der Mutter vor dem Einmarsch der Russen aus Pommern, unterwegs mit dem sechs Monate alten Baby, das sie selbst einmal war, ist Gegenstand von Rosemarie Zens‘ behutsamer, ebenso bewegender wie ästhetisch und intellektuell hochreflektierter Erinnerungsarbeit. Spät und behutsam, ja fast scheu, gegenüber dem, was sich in einer unzugänglichen Schicht des Gedächtnisses verborgen hält, begibt sie sich mit der Kamera und den Jahrzehnte später niedergeschriebenen Aufzeichnungen der Mutter auf die Wege ihrer frühesten Kindheit ins heutige Polen. Kann man unbewusst bleibenden Erinnerungen eine visuelle Form geben, die sie zur eigenen Geschichte verdichten?
Zunächst sind es zugige Winde, Gerüche, ein blitzschnell auftauchendes Unbehagen beim Justieren der Bild-Koordinaten: „Mit der Kamera hielt ich fest, was meine Aufmerksamkeit erregte. In der Morgen- und Abenddämmerung die Nebelstreifen, die sich erhoben und wieder senkten. Am helllichten Tag die Weite der Wiesen, die Wege ins Unbekannte. Die Anmutung von Freiheit, Stillstand und Verlorenheit. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, was ich zunächst übersehen hatte: wie Gewaltsames aufbricht, wie leicht die Bilder ins Bedrohliche kippen“. Ein Satz der Mutter, mit dem die erste Foto-Sequenz anhebt, beschreibt das Existentielle der Situation: „Wo sollte ich jetzt, mitten in der Landschaft hin?“ Es ist eine frühe, elementare Bedrohung, wie sie in Grimmschen Märchen aufscheint. Und so begegnen wir auch in vielen Bildern einer verwunschenen, farblich zurückgenommenen Feenlandschaft, einem Gespinst aus Schilf, Spinnenweben, nebelverhangenen Wiesen, verfallenden Häusern inmitten von Brennesseln. Weiterlesen
Claudia Fritz: Gerahmte Transparenz
Temporäre Einblicke in fremde Welten können unverhoffte Glücksmomente verschaffen, flüchtig wie ein Schattenwurf, der sich auf einer Häuserwand abzeichnet, die Spiegelung einer Straßenszene in einer Fensterscheibe, der Anblick von ruhend ausgestreckten Beinen in Strumpfhosen, deren Rippenmuster mit den breiten Stufen einer Treppenanlage korrespondiert.
In ihren gebauten Proportionen bietet gerade die moderne Stadt mit gelenkten Verkehrsströmen, öffentlichen Parks, Geländern und Brüstungen, aber auch mit Durchsichten zwischen Hochhäusern und Bürotürmen, ein Raster von geometrischen Strukturen, deren Anblick sich je nach Position des Betrachters ein wenig verschieben mag. Mit Leben erfüllen Bewohner und Passanten die bereit gestellte Infrastruktur: Sie folgen den architektonischen Vorgaben verdrossen, zerstreut oder ausgelassen. Oft aber bespielen sie die gebaute Welt doch ganz anders als ursprünglich vorgesehen. Jahreszeiten und Lebenssituation spielen dabei eine Rolle: Regenwetter oder die erste Frühlingssonne setzen ein anderes Licht, städtische Brachen entstehen, junge Studenten bewohnen öffentliche Plätze ungezwungener als vom Alltag zermürbte Berufstätige.
Dieses urbane Kräftespiel ordnend ins Bild zu setzen, bedarf es gleichermaßen einer Kamera, die das pulsierende Geschehen im Zweidimensionalen des Bildes für unser Auge plausibel zurecht rückt, wie eines analytischen, ja ethnologischen Blickes, der das Zusammenwirken von Architektur und Bewohnern als Ausdruck eines spezifisch-zeitgenössischen Lebensgefühls zu begreifen sucht. Weiterlesen
Die feinen Unterschiede: Architektonische Zeugen der Ost-Moderne zwischen Totsanierung und sorgsamer Archivierung
Über Jahrzehnte hinweg galten die architektonischen Zeugen der Ostmoderne hinsichtlich ihres ästhetischen Anspruchs als eintönig und trist. Das Interesse an ihnen erwachte spät. Heute scheint das gewichtigste Argument für den Erhalt der Bauten ihr drohendes Verschwinden zu sein.
Architektonische Relikte der Schwerindustrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahren im Westen als „Anonyme Skulpturen“ in den letzten Jahrzehnten Anerkennung und Pflege. Sie halten vor Ort die Erinnerung an untergegangene Produktionsformen und die funktionale Vielfalt von Industriebauten wach, mit denen man im laufenden Betrieb in erster Linie Schwerarbeit und Umweltverschmutzung verband. Fotografen wie Bernd und Hilla Becher waren es, die im großen Maßstab, mit langem Atem und systematischem Vorgehen das Auge schulten. Auch nüchterne Zweckbauten, so lernte man beim Vergleichen ihrer zu Tableaus angeordneten Bildfolgen, unterscheiden sich in ihren gestalterischen, funktions- und standortbedingten Varianten. Trotz dieser Vorschule der Aufmerksamkeit scheint sich auch im Fall der Ostmoderne zu wiederholen, was mit der lange ausgebliebenen, schließlich aber doch einsetzenden Wertschätzung für die Industriedenkmäler, einen Vorläufer fand. Recht verspätet, Weiterlesen
Bianca Patricia – Schlaflos in Manhattan: Tradition und Intimität, Bilder eines Berufsstandes
„Dass wir einen Pförtner haben, wußte ich gar nicht und wenn wir einen haben, so muss es der stillste Pförtner der Welt sein, denn ich habe nie etwas von ihm vernommen“, schreibt Adalbert Stifter in einer Erzählung Mitte des 19. Jahrhunderts. Und auch um 1910 ist der Blick auf den Pförtner der Blick auf ein „kleines Metier“ und die mit ihm verbundenen Lebensgeheimnisse. „Der Pförtner Bügelmann“ wird in einem Stück von Oscar Wagner mit dem sprechenden Titel „Der stille Portier. Berliner Lebensbild mit Gesang in einem Aufzug“ als 73 Jahre alt, „stumm, schlichtes weißes Haar, bartloses, freundliches Gesicht in gestrickter Jacke und Schürze“ und somit als unscheinbares Inventar des Hauses vorgestellt. Der Pförtner im Mietshaus und sein weibliches Gegenstück, die Concierge, deren Tätigkeit durchaus auch als Zuflucht für perspektivlose Intellektuelle Anlass zu romantischen Fantasien bieten kann (zum Beispiel im französischen Roman und der Verfilmung „Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barberry, 2006) sind im alten Europa als kleine Berufe in ihrer ursprünglichen Form weitgehend verschwunden. Sind sie so ausgestorben wie die literarische Figur des bildungshungrigen Essigbauers (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser) oder der über den großen Fragen des Kosmos grübelnden, kaum des Lesens kundigen Trödlerin (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 1. Fassung) in der Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts?
Folgt man dem europäisch sozialisierten Blick von Bianca Patricia so feiern diese Figuren möglicherweise ihre zeitgenössische Wiederkehr und Transformation im amerikanischen „Doorman“ der Banken, Firmen und Appartements oder in etwas proletarischerem Umfeld im Kassenhäuschen eines Parkhauses. Weiterlesen
Welt-Laboratorium: Neu erfundene Bilder von Julie Monaco
Auf den ersten Blick bewegen wir uns in zwei völlig voneinander getrennten Bereichen, je nachdem ob wir Bilder betrachten oder es mit Zahlen zu tun bekommen:
Schauen wir uns ein Bild an, geraten wir, sofern wir einen vertrauten Bildgegenstand zu erkennen glauben, wie zum Beispiel eine Landschaft oder eine Figur, in eine Welt, die noch ein Stück weit der unseren verhaftet zu sein scheint. Darüber hinaus aber werden wir mit unserer Erinnerung an bereits Gesehenes in imaginäre Erfahrungsbereiche hineingezogen. Dies geschieht auf dem Weg der Formensprache: der Komposition, den Farbabstufungen oder Grauwerten.
Oder aber, wir dringen in das Reich der Zahlen ein, hier spannt sich ein mathematisch bestimmter Raum auf, in dem Axiome und Rechenoperationen definiert sind, in dem aber ebenso wie in der Kunst auch kühne Neuerungen der Anschauung möglich werden. Weiterlesen
Vom Zauber französischer Sujets und anderen Kultur-Vermessungen
Stellen wir uns vor, ein Zauberer berührt mit seinem Zauberstab einen mit tiefschwarzem Samt ausgeschlagenen Zylinderhut. Vor unseren Augen entsteigt eine komplementäre Welt. Gerhard Vormwald gibt sich die Ehre: Es funkelt und glänzt, es zischt, spritzt, kracht und lodert – eine große Galaschau, ein permanentes Silvester im Wirbel der Formen und schon halten farbenfroh auch die Akrobaten und Artisten Einzug: Junge Menschen in bunten Trikots schweben durch die Luft, vollführen waghalsige Sprünge nackt oder korrekt gekleidet, sie spielen Instrumente, sie springen über Fernsehgeräte, Schreibtische und Fahrräder, es scheint jedenfalls ein Riesenspaß zu sein. Weiterlesen
Das Wunder der Individualität
Das Porträt einer ernsthaften, jungen Frau lockt auf der Einladungskarte ins Städel: eine etwas antiquiert wirkende Schöne, heller Teint, dunkle Augen, streng gescheiteltes, braunes, wohl zu einem Dutt gefasstes Haar, die ersten grauen Fäden blitzen hervor, die Lippen sind sorgfältig geschminkt. Sie blickt nachdenklich vor sich hin. Unsere Zeitvorstellungen geraten, so wir nicht gerade Foto- oder Modehistoriker sind, bei ihrem Anblick ins Wanken: Welchem Jahrhundert gehört sie eigentlich an? Die Dame erweist sich als Pariser Comtesse, 1952 von Otto Steinert porträtiert. Zusammen mit zwei in den siebziger Jahren entstandenen Fotografien von Ludwig Windstosser (der mit einem Bild von einer Nonne vor Botticellis Venus und einer Massenszene im Stadion thematisch auf die Becherschule zu zeigen scheint), beschließt ihr Bildnis auf der Zeitachse die Frankfurter Ausstellung. Weiterlesen
Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor
Anders als der Titel nahelegt, geht es in Michael Frieds Buch weniger darum, weshalb Fotografie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, als um die Positionierung des bedeutenden amerikanischen Kunsthistorikers als (um es vorwegzunehmen: nicht ganz so bedeutenden) Fotografietheoretikers. Das umfangreiche Buch verliert sich alsbald in einem immer unübersichtlicher werdenden Mantra von wiederholten Titelnennungen und Querverweisen auf einen frühen und wegweisenden Essay Frieds zum Minimalimus in der Kunst ( Kunst und Objekthaftigkeit, 1967) und andere, eigene Schriften. Zumindest einem europäisch erzogenen Ohr wird bei soviel Selbstlob schon nach den ersten Seiten unbehaglich und auch das Ende des Buches, wo Fried darlegt, alle vorgestellten fotografischen Werke bestätigten Positionen seines Minimalimus-Essays stimmt da nicht glücklicher. Weiterlesen