Das Wunder der Individualität

Das Porträt einer ernsthaften, jungen Frau lockt auf der Einladungskarte ins Städel: eine etwas antiquiert wirkende Schöne, heller Teint, dunkle Augen, streng gescheiteltes, braunes, wohl zu einem Dutt gefasstes Haar, die ersten grauen Fäden blitzen hervor, die Lippen sind sorgfältig geschminkt. Sie blickt nachdenklich vor sich hin. Unsere Zeitvorstellungen geraten, so wir nicht gerade Foto- oder Modehistoriker sind, bei ihrem Anblick ins Wanken: Welchem Jahrhundert gehört sie eigentlich an? Die Dame erweist sich als Pariser Comtesse, 1952 von Otto Steinert porträtiert. Zusammen mit zwei in den siebziger Jahren entstandenen Fotografien von Ludwig Windstosser (der mit einem Bild von einer Nonne vor Botticellis Venus und einer Massenszene im Stadion thematisch auf die Becherschule zu zeigen scheint), beschließt ihr Bildnis auf der Zeitachse die Frankfurter Ausstellung.

Steinerts Aufnahme lädt zur Kontemplation ein. Oder wie Wilfried Wiegand es angesichts eines Platinpapierdrucks von Paul Outerbridge formuliert: „Das Entscheidende, was solche fotografischen Meisterstücke von uns verlangen, ist Zeit, viel Zeit. Sie zwingen uns zur Entschleunigung des Blicks, drücken uns gleichsam eine Lupe in die Hand.“ Werke aus der Sammlung Wiegand mit früher Fotografiekunst, die 2011 den Weg ins Städel fanden, sowie aus der Sammlung Kicken, bilden im Kontext der eigenen, schon früh angelegten Bestände des Städel einen reichhaltigen Fundus, aus dem die Schau schöpfen kann. Unter dem betont zurückhaltenden Titel „Licht-Bilder“ laden die Kuratoren Felix Krämer und Felicity Grobien zu einem nobel aufgearbeiteten, fotografiegeschichtlichen Parcours ein. Auf anthrazit gehaltenen Wänden gezeigt, in sorgfältig auf das Bild abgestimmtem Rahmen bei einheitlichem Passpartout bietet die auch in der Menge des Gezeigten wohldosierte Ausstellung Fotografiegeschichte als kostbares Kulturgut: „Der Fotorahmen vollbringt das Wunder der Individualität“, postuliert Wiegand im ansonsten mit Aufsätzen eher schwach bestückten Katalog. Wie auf einer Perlenschnur gereiht, wird so, Werk für Werk, Fotografie von den Anfängen bis hinein in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts präsentiert.

Und tatsächlich: Besonders im ersten Kabinett erwarten uns frühe fotografische Bilder, die zwar unter Strapazen und großem Zeitaufwand entstanden sind, die aber doch leichthin den Glanz der neuen Errungenschaft vor Augen führen. Verhalten und doch sinnenbetörend zeigt sich die noch junge Kunst. Und angesichts des Pleinair-Porträts eines in seine Arbeit vertieften Zeichners von David Octavius Hill (ca. 1845), der trotz minutenlangen Stillhaltens, hingebungsvoll seiner Arbeit nachzugehen scheint, einer sonnendurchfluteten Parkszene von Hermann Wilhelm Vogel (1866) oder einem Blick von Charles Marville in eine menschenleere Pariser Straße (1865), deren Kopfsteinpflaster den gebrochenen Glanz des Lichts spiegelt, wird die rätselhafte Verklärtheit bei gleichzeitiger Bewunderung für die neuartige Technik nachvollziehbar, mit der Walter Benjamin einst in der „Kleinen Geschichte der Fotografie“ in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die besondere Faszination angesichts solch früher Werke beschrieben hat. Eine in Oberägypten entstandene Aufnahme von Francis Frith (1857) zeigt die im neuen Medium enthaltene Präzision: Wir sehen eine teilweise mit Hieroglyphen bedeckte Tempelruine, so deutlich, als könnten wir die Schrift lesen. Erst nach langem Hinschauen indes entdeckt man, wie sich aus dem Stein eine menschliche Figur herauszulösen scheint. Sie ist in das Geschehen kompositorisch eingelassen wie eine Signatur auf einem Gemälde, die vom Maler unauffällig auf den Seiten eines Buches oder dem Sockel eines Gebäudes angebracht, ihrer Entdeckung harrt.

Kommerzieller wird es im nächsten Raum, der Giorgio Sommer gewidmet ist, ein aus Deutschland emigrierter Fotograf, der mit eingängigen italienischen Sujets sein Auskommen fand. Hier und da gibt es auch weitere Querverweise zu zeitgenössischen Gebrauchsweisen der Fotografie, die ja schon früh als wichtiges Medium für Kunst- und Baugeschichte Verwendung fand. Das Städel selbst entdeckte einige großformatige Fotografien von Raffael-Kartons im Archiv, die zu didaktischen Zwecken im Städel schon in den späten 40 er Jahren des 19. Jahrhunderts ausgestellt wurden. Und auch die Königlich Preußische Messbilda-Anstalt erteilte Aufträge für fotografische Aufnahmen von Monumenten, um genauer Maßwerk und Aufriss von Kirchen und Tempeln studieren zu können. Frühe Farbexperimente finden sich bei Pionieren wie Léon Vidal oder Heinrich Kühn, die intensiv mit dem nachträglichen Einsatz von Farbe beim Positiv-Abzug experimentierten. Alfred Stieglitz‘ berühmtes „The Steerage“ (leider ohne die schöne Beschreibung, die er selbst von diesem Bild angefertigt hat und die z.B. in der von Wiegand 1981 herausgegebenen Publikation: „Die Wahrheit der Photographie“ zu finden gewesen wäre) leitet vom Piktorialismus und malerisch inspirierten Kompositionsverfahren zur Sachlichkeit über: Einige bekannte Porträts von August Sander und Arbeiten von Hugo Erfurth, aber auch Konstruktives von Werner Mantz sind zu sehen (bemerkenswert: eine Kölner Brücke von 1927, die in der Komposition in flächigen Farbfeldern eine geradezu abstrakte Raumauffassung verrät). Auch drei Hitler-Postkarten von Heinrich Hoffmann werden gezeigt, die den Diktator in unterschiedlichen Rednerposen präsentieren – Ende der Dreißiger Jahre erschien Hitler das Ganze wohl als kompromittierend und er verbot den weiteren Verkauf. Alfred Renger-Patzsch, dem nicht zuletzt aufgrund der unglücklichen Titelwahl seines Verlages „Die Welt ist schön“ lange das Verdikt des kritiklosen Kapitalismus-Apologeten anhing, wird ein eigener Saal mit Arbeiten zu Maschinenteilen (1950) und Experimentellerem gewidmet. Denn auch Renger-Patzschs Portfolio enthält überraschend Avantgardistisches: so ein ungewöhnliches Porträt einer spröden jungen Frau von 1938 (in gewisser Weise ein zwar älteres, aber doch vom Frauentyp und der Bildauffassung moderneres Gegenbild zu Steinerts Comtesse).

Unter den surrealistisch inspirierten Arbeiten und im Raum der tschechischen Avantgarde werden wir dann auch mit zwei sehr irritierenden Arbeiten konfrontiert: einer Gipsbüste mit einem Turban aus Wollsträngen von Man Ray (das Format täuscht über die Größenverhältnisse, so dass man den Kopf als nahezu lebensgroß annimmt, was aber mit den Proportionen der Wollstränge nicht so recht zusammenpassen mag) und einem mit „Betende Frauen“ betiteltem Bild von Václav Chochola (1938). Wir sehen Kopftuch tragende Frauen, auf dem Boden nebeneinander gereiht, in einer Haltung als wären sie gen Mekka geneigt. Das Bild hat indes aber wohl eine profane Sport- oder andere Massenveranstaltung zum Gegenstand. Hier wären klärende Bild-Kommentare schön gewesen.

Der letzte Raum gehört Otto Steinerts „Subjektiver Fotografie“ und den Mitgliedern von fotoform. Steinerts Comtesse, deren Bild die Betrachter_in aus der Schau geleitet, blickt von der Stirnseite des Raumes auf die Vielfalt der ästhetischen Experimente des bedeutenden Fotografielehrers: Sein wohl bekanntestes, recht surreal angehauchtes Foto vom isolierten Fuß, der an einem, in Gitter eingeschlossenen Baum vorbei schreitet (Ein-Fuß Gänger, 1950) bis hin zu Bewegungsexperimenten (Luminogramm , 1952), die im Gestus an die Expressivität des nahezu zeitgleich operierenden Malers Jackson Pollock erinnern oder auch raffinierte Mehrfachbelichtungen, die zu einer Collage zusammengesetzt sind.

Der Parcours lässt also wenig Wünsche offen, außer einem, über den auch der Anblick der schönen Comtesse nicht wirklich hinwegzuhelfen vermag: Die Sammler haben – bis auf Julia Margaret Cameron und Dora Maar und zwei weiteren Frauen viel zu wenig das vielfältige Schaffen von Fotografinnen in ihrer Auswahl und ihren Ankäufen berücksichtigt. Fotografie war auch und ganz besonders ein Medium von Frauen, allerdings nicht zuletzt, weil die Anerkennung als eigenständige Kunst erst relativ spät erfolgte.

Licht-Bilder. Fotografie im Städel von den Anfängen bis 1960. Bis 5.10.2014