Rosemarie Zens: Wellenberge des Erinnerns

Die Flucht der Mutter vor dem Einmarsch der Russen aus Pommern, unterwegs mit dem sechs Monate alten Baby, das sie selbst einmal war, ist Gegenstand von Rosemarie Zens‘ behutsamer, ebenso bewegender wie ästhetisch und intellektuell hochreflektierter Erinnerungsarbeit. Spät und behutsam, ja fast scheu, gegenüber dem, was sich in einer unzugänglichen Schicht des Gedächtnisses verborgen hält, begibt sie sich mit der Kamera und den Jahrzehnte später niedergeschriebenen Aufzeichnungen der Mutter auf die Wege ihrer frühesten Kindheit ins heutige Polen. Kann man unbewusst bleibenden Erinnerungen eine visuelle Form geben, die sie zur eigenen Geschichte verdichten?

Zunächst sind es zugige Winde, Gerüche, ein blitzschnell auftauchendes Unbehagen beim Justieren der Bild-Koordinaten: „Mit der Kamera hielt ich fest, was meine Aufmerksamkeit erregte. In der Morgen- und Abenddämmerung die Nebelstreifen, die sich erhoben und wieder senkten. Am helllichten Tag die Weite der Wiesen, die Wege ins Unbekannte. Die Anmutung von Freiheit, Stillstand und Verlorenheit. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, was ich zunächst übersehen hatte: wie Gewaltsames aufbricht, wie leicht die Bilder ins Bedrohliche kippen“. Ein Satz der Mutter, mit dem die erste Foto-Sequenz anhebt, beschreibt das Existentielle der Situation: „Wo sollte ich jetzt, mitten in der Landschaft hin?“ Es ist eine frühe, elementare Bedrohung, wie sie in Grimmschen Märchen aufscheint. Und so begegnen wir auch in vielen Bildern einer verwunschenen, farblich zurückgenommenen Feenlandschaft, einem Gespinst aus Schilf, Spinnenweben, nebelverhangenen Wiesen, verfallenden Häusern inmitten von Brennesseln. Die Bildfolge setzt ein mit einem Nachtbild, das durch Gestrüpp hindurch den Vollmond sehen lässt, gleich einer Iris oder einer runden Blende, mit der ein Stummfilm schließt. Das letzte Bild zeigt den über Stromleitungen aufgestiegenen Mond, einige Äste recken sich ihm wie ausgestreckte Arme entgegen.

Manchmal arbeitet sich ein Riss an die Oberfläche, der den Bildern eingeschrieben ist: Als ein aus dem Lot gebrachtes Sinnbild erscheint eine mild gewölbte Wiesenlandschaft auf einer doppelseitigen Aufnahme. An den Seiten mit spärlichem Gebüsch und einigen kargen Bäumen versehen und so dem Auge wie eine heroische Landschaft dargeboten, durchziehen drei tief liegende, breite Schatten die Wiesenkuppel in der Horizontalen. Auf einem der Schattenbänder grast eine Kuh, ein paar Schritte oberhalb, erscheint im Sonnenstreifen eine älteren Mann mit Stock, der sie betrachtet – sie bilden zwei kleine, verlorene Staffagefiguren. Oder eine Dorfszene mit einem überdimensionierten, modernen Kruzifix und winzigem Jesus hoch oben vor einem Stromverteilungsmast, die sich auf der Bildfläche zu einer Art Maschine zusammenschließen.

Einem Sog der Erinnerung gehorchen die rhythmisch in die Bildfolgen eingefügten Schwarz-Weißfotos aus dem Familienalbum, die größtenteils so beschnitten (oder tatsächlich so aufgenommen?) sind, dass sie dem entsprechen, an was sich ein geliebtes Kind gerne erinnern mag: eine lachende Frau, man sieht von ihr Teile des Gesichts, die Armbeuge, die Beine, alltägliche Kleidung, alles strahlt frauliche Wärme aus. Ein historisches Foto zeigt eine Szene am Sandstrand: eine junge Frau im Badeanzug linkerhand, blättern wir eine Seite weiter sehen wir auf gleicher Bildhöhe einen Fuchs, der durch den Schnee streift und ihr vom rechten Rand aus entgegenzugehen scheint.
Der wunderbare Band, umschlossen von den Reflexionen der Fotografin und Auszügen aus den Berichten der Mutter – sie scheint eine lebenslustige unerschrockene Frau gewesen zu sein – erschließt sich so auf mehreren Ebenen. Der Titel, auf dem Cover ausgestanzt, (wickelt man das fädchengebundene Buch aus, wird man auf der Innenseite des Schutzumschlages mit einer Karte der Orte überrascht), führt das Meer des Erinnerns und Vergessens als Metapher ein. Der kriegsversehrte Vater „trug“ Hoffmannsthals Aufzeichnungen „in sich“, so Zens – Erinnerungspartikel werden im imaginären Niemandsland von Binnengewässer und offener See umhergestoßen: „Alles Gelebte ist in der Erinnerung von einer Sonderbarkeit, die dem Traum nahe kommt; seine Wiederannäherung zieht an und stößt ab – in ihr mischt sich Tod und Leben wie süßes und salziges Wasser…“.

Rosemarie Zens: The Sea Remembers. Landschaft und Geschichte. Kehrer Verlag, 2014, 144 S., 36 €