Der Corviale lebt!

Im Vordergrund wird eine Rasenanlage mit einer zottigen Schafherde beweidet, rechts und links beschneidet der Bildrand bei einem der Tiere den Kopf, bei den anderen Rücken und Hinterläufe. Ein einzelnes Schaf trottet in der Mitte, während am Horizont ein langgestreckter Flachbau einen Riegel bildet. Hellblau, mattes Grün, verhaltenes Grau sind die Farben, während ein sonnengelber Längsstreifen den Buchrücken markiert: „Corviale“ heißt in denkbarer Schlichtheit das Fotobuch des Österreichers Otto Hainzl der sich dem Leben innerhalb der archtektonischen Vorgaben des riesigen, am Stadtrand von Rom gelegenen Wohnkomplexes widmet.

8000 Einwohnern auf zehn Etagen untergebracht, in einem fortlaufend gereihten, von Atrien geöffneten Baukörper, dieses Vorhaben, dem Geist sozialen Wohnbaus in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts verpflichtet, entstand erst spät, in den Siebziger Jahren. Der Corviale ist immer wieder einmal vom Abriss bedroht, zumal die Wohnlage in der römischen Campagna zwischenzeitlich als finanziell attraktiv gilt. Das utopische Konzept der „Stadt in der Stadt“, zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon als undurchführbar und allzu rationalistischen Vorstellungen vom Wohnen nachhängend, verabschiedet, wurde in entscheidenden Punkten der Infrastruktur, aus Kostengründen seiner sozialen Möglichkeiten beraubt: Einkaufsgelegenheiten entfallen weitgehend, ebenso gestaltete Gemeinschaftsräume, welche die Funktion eines Platzes, an dem sich trifft, wer gerade vorbeikommt, übernehmen könnten. Dazu war ursprünglich das vierte Geschoss als Freiraum für soziale Aktivitäten vorgesehen, die Bewohner indes haben das „Ausnahmestockwerk“, wie es Angelika Fitz in ihrem anregenden Essay nennt, mehr oder weniger privatisiert. Otto Hainzl wohnte mehrere Monate in einem der Appartements und erkundete das Terrain, das zum einen als sozialer Brennpunkt gilt, zum anderen aber doch von vielen seiner BewohnerInnen geschätzt wird. Oder wie Angelika Fitz schreibt: „Der Corviale funktioniert trotz seiner Architektur. Der Corviale funktioniert wegen seiner Architektur.“ Zu dieser Erkenntnis führt Otto Hainzl den Betrachter seines Buches behutsam, Bild für Bild und sehr allmählich, als würde man selbst tagelang das Gebäude durchstreifen. Dann aber erschließt sich der spröde Reiz des Ambientes umso eingehender. Da wären zunächst die Farben, Leitlinien und Piktogramme, die eine erste Orientierung bieten: Blaue und gelbe Streifen ziehen sich entlang der Betonwände, eine Klingelanlage, zwar heruntergekommen, aber doch mit zur Gesamtgestaltung passenden Proportionen, ansprechend konzipierte Icons für den Lift, Hainzl trifft auf Letztere direkt neben einem abgestellten Autowrack. Die schon auf dem Titelbild gezeigten Farben greifen die Farben auf, die im Inneren des Komplexes dominieren und der nüchterne Bau entfaltet in seiner Geometrie einen speziellen Charme, ein wenig wie bei dem in den Siebziger Jahren so geschätzten Maler und Grafiker Victor Vasarely, dessen geometrisch strenge Bildkonstruktionen kurzzeitig eine Generation begeisterten. Hainzl zeigt neben dem gestalterischen Anspruch vergessene Ecken, abenteuerliche Verkabelungen und anrührende Plätze, so den Schreibtisch für ein Kind, im öffentlichen Flur aufgestellt, das hier einen Ort zum Lernen belegen kann. Kleine Wichtelfiguren sind an andrer Stelle auf dem Sims entlang der Fensteröffnung einer Wand aufgestellt, dahinter erahnt man einen Treppenschacht. Wäscheständer, ausquartierte Zimmerpflanzen und sich selbst aussäende Pionierkräutchen versammeln sich auf den Gängen. Aber auch martialische Wandbilder, mit Fingerfarben übertünchte Glasfenster, ein aufgemalter Blumenstrauß finden sich neben Tauben, die in das Gebäude geraten sind oder Brandspuren. Sechs große Tafeln zeigen Ausschnitte aus der von den Bewohnern genutzten Fassade aus der Außensicht, einige die Innenperspektive von Balkonen oder Gängen auf andere Gebäudeteile oder Pinien im Freien. Yuccapalmen und zum Trocknen ausgebreitete Jeans ragen über Brüstungen und ehe man es sich versieht, glaubt man nach einer Weile ein Summen und Geflüster wahrzunehmen, auch wenn nirgendwo Bewohner zu sehen sind: „Der Corviale lebt!“, glaubt man dem Stimmengewirr zu entnehmen.

Otto Hainzl: Corviale. Kehrer Verlag. Texte (Angelika Fitz, Otto Hainzl, Gabriele Kaiser, Martin Hochleitner) engl./italien. ,120 S., 39,90€

zuerst erschienen: Photonews 7-8/15