Helen Levitt in der Albertina: Mythos der Straße

Geselliges Leben vor der Haustür, das auf einer ins Hochparterre führenden Treppe oder dem Gehweg stattfindet, Schwarze und Weiße, Einwanderer, rauchende, spielende oder wie in einem ausgelassenen Tanz miteinander kämpfende Kinder: Helen Levitts Schwarzweißaufnahmen aus dem New Yorker Harlem der frühen 1940er Jahre haben sich tief ins fotografische Bildgedächtnis eingeschrieben. Auch wenn die Lebensumstände, wie der heruntergekommene Putz auf den lädierten Fassaden im Hintergrund zeigt, denkbar rau sind, scheinen die New Yorker auf Levitts Bildern ungebrochen Selbstbewusstsein zu zelebrieren. Sie sind die zeitenthobenen Götter der Straße, auch dann noch, wenn sie sich den Menschen in Gestalt verarmter Straßengrößen, als Betrunkene oder in Gestalt von mit Halloween-Masken bewehrten Kindern zeigen. Weiterlesen

Farbige Schatten an der Leine einer Tänzerin: Man Ray in Wien

Einprägsam geformte Objekte artifizieller oder natürlicher Herkunft, gerne auch schon etwas in die Jahre gekommen, bilden den Ausgangsstoff traumverlorener Sequenzen im weltenthobenen Kosmos surrealen Schaffens. „Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Passage“ , schrieb Walter Benjamin in den „Pariser Passagen“. Aber noch ein weiterer einflussreicher Dritter stand an der Wiege Gevater: der Kubismus. Man Ray (1890-1976), Surrealist durch und durch, mit Marcel Duchamp und Max Ernst befreundet, arbeitete Zeit seines Lebens daran, die konischen Gebilde, simultan nebeneinander gestellten Perspektiven und Transparenzen der kubistischen Formensprache in surreale Bildideen zu transformieren – eine Ausstellung im „Kunstforum Wien“ zu Man Ray gibt dieser Seite des schwer zu greifenden, in unterschiedlichen Medien experimentierenden Künstlers Raum. Weiterlesen

Wind in Sicht: Windenergie, eine neue Ära wird besichtigt

Ein historisches Schiff mit geblähten Segeln gleitet an einem schmalen, in die Höhe ragenden, strahlend weißen Windrad vorüber, das stolz und frei seine Flügelrotatoren dem Wind entgegen zu recken scheint. Im Bildhintergrund schmiegt sich ein Städtchen mit Kirchturm ans Ufer. Der Himmel ist blau, von kleinen Wolken durchzogen – das Coverbild von Ulrich Mertens Buch „Wind in Sicht“ verbindet Vergangenheit und Zukunft.

Ulrich Mertens hat eine Art Expedition durch Deutschlands Landschaften im Zeichen der Windenergie unternommen, um innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren die neue Ära zu begleiten: Dazu besuchte er Windenergieanlagen quer durch die Republik, baut als Fotograf berufliche Kontakte zum Bundesverband Windenergie auf, zu Anlagenbetreibern und Arbeitskreisen. Weiterlesen

Treibhäuser der Ideen

Niklas Maak beschreibt gesellschaftliche Utopien von Architekten, Johanna Diel setzt sie betörend schön ins Bild

Gebaute Gesellschaftsutopie mit schon in die Jahre gekommenen Materialien, aber immer noch von einem Hauch savoir vivre und liberté durchzogen, so ließen sich die Wohnkugeln, aufblasbaren Formationen und Terrassenhäuser aus den Sechziger und Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im philosophisch diskutierfreudigen und seinerzeit vehement der Zukunft huldigenden Frankreich beschreiben. Zwischen ständig im Umbau begriffen und bereits Ruine bewegen sich die Wohnvisionen, die Niklas Maak in seinem gemeinsam mit der Fotografin Johanna Diel herausgegeben Buch „Eurotopians“ den Nachgeborenen nahe bringt. Weiterlesen

Fotobuch »Reflecting Pools« von Christina Werner

Healing New York – im Widerstreit der Zeichen

Für das Abwesende eine Form zu finden, die das historisch Einzigartige eines schrecklichen Ereignisses fassen kann und die sich doch gegenüber ästhetischen Zeitvorlieben, mit denen schon die nachfolgende Generation nichts mehr anzufangen weiß, maßvoll zurückhält, ist die schwierige, oft kaum einlösbare Aufgabe von Memorials. (…)

Als besonders schwierig und konfliktträchtig erwies sich vor dem Hintergrund widerstrebender Interessen die städtebauliche Gestaltung des Geländes von Ground Zero: Bei der Attacke von 9/11 auf das World Trade Center in Manhattan waren fast 3000 Menschen getötet worden, traumatisierende Filmbilder der angreifenden Flugzeuge und ein verwüstetes Gelände voll Schutt und Staub hatten sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt. (…) Weiterlesen

Vortragsankündigung: Die Knochen sehen – Blinde in der Fotografie, ein neues Bewusstsein?

Ort: Hamburg, Haus der Photographie, Deichtorhallen
Termin: Samstag, 25. November 2017, 14:15 Uhr

Der Vortrag wird auf der Tagung der Deutschen Photographischen Akademie gehalten.

Betrachtet man historische Aufnahmen, die Blinde zeigen, befällt einem Unbehagen. Auf einer frühen Aufnahme von Paul Strand „Blind Woman“ aus dem Jahr 1916 zum Beispiel sehen wir den Kopf einer älteren, ärmlich gekleideten Frau, frontal vor einer schäbigen Wand aufgenommen. Ihr eines Auge ist geöffnet und sieht gesund aus, beim anderen ist der Augapfel nach innen verdreht. Um ihren Hals baumelt ein Schild, auf dem nur ein einziges Wort steht „Blind“. Ähnlich eine Fotografie von Lisette Model aus den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Ein grimmig ausschauender Herr sitzt auf einem Hocker vor einer Plakatwand und präsentiert ein Schild mit der Aufschrift „Aveugle“. Blinde wie Betrachter scheinen in ihrer je eigenen Welt isoliert zu sein, die unselige Bettelsituation wirkt wie ein Bann. Schon Dante hat in der Commedia, beim Gang durchs Purgatorio, die ungleichgewichige Situation zwischen Sehenden und blinden Bettlern beklagt: „Mir schien als täten wir im Gehen unrecht, wenn wir sie sahn, ohne dass sie uns sehen.“

Inzwischen hat sich die Einstellung zu Blinden, vor allem aber auch zu blinden Fotografen und Fotoigrafinnen gewandelt. Vor allem von Letzterem wird in meinem Vortrag die Rede sein, mit Beispielen aus der amerikanischen Fotografie, ausgehend von einem Film von Frank Amann „Shot in the Dark“(2017) und weiteren Projekten.

 

Stadtentwicklung Frankfurt. Kann man Banken lieben?

46Frankfurt am Main zählte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den schönsten Städten in Deutschland: Eine mittelalterliche Altstadt mit spitzgiebligen Dächern und Gründerzeitquartiere prägten das Stadtbild. Heute verbindet man mit Frankfurt die wachsende, himmelstürmende Skyline und begreift die Stadt als durch und durch modern. Kriegsschäden und die achtlose Abrisspolitik der Nachkriegsjahrzehnte ließen nur noch wenige historische Bauten übrig. Hierin teilt Frankfurt das Schicksal vieler anderer deutscher Städte.

Ältere Frankfurterinnen und Frankfurter müssen auf ferne Kindheitserinnerungen zurückgreifen, um sich an den Vorkriegszustand des in Trümmer gelegten Altstadtviertels zu erinnern. Jüngeren Stadtbewohnern und Besuchern Frankfurts steht neben überlieferten historischen Fotografien ein idyllisch anmutendes Stadtmodell der Brüder Treuner im Maßstab 1:200 zur Ansicht. Es wurde vor dem Krieg begonnen, aber erst danach fertiggestellt und befindet sich im Besitz des Historischen Museums.

Vor einigen Jahren setzte ein sehr zeitspezifisches Revival des verlorenen historischen Zentrums ein. Weiterlesen

Shot in the Dark – Bilder von blinden Fotografen

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Zunächst herrscht Verwunderung, ja Irritation, vor allem bei Menschen, die sich nicht professionell mit Bildern befassen: Blinde Fotograf*innen – ist das nicht ein vollkommen absurdes Unterfangen? Spät erblindete oder stark sehbehinderte Maler, die hochgeschätzt weiterarbeiten, sind in der Kunstgeschichte keine Seltenheit.

© Bruce Hall

Anders verhält es sich bei der Fotografie: Die Wahrnehmung des Blinden und seine Umsetzung innerer Bilder und gefühlter Raumwahrnehmung in ein zweidimensionales fotografisches Bild, das nach ästhetischen Kriterien betrachtet werden will, spitzt die Frage nach dem Akt des Fotografierens aufs Äußerste zu.

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Anleihen an die Zukunft: Zahlenkolonnen und persönliches Orakel

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Entwurf und Umsetzung, Idee und Ausführung, Konzeption und Realisierung, Architekturzeichnung und Bau – wie auch immer man die beiden Seiten des künstlerischen Arbeitsprozesses bezeichnen mag – sie gehören zueinander und sind doch autonome Akte.
Oft lässt sich erst aus dem zeitlichen Abstand heraus bestimmen, wie sehr eine künstlerische Konzeption auch Aufschluss darüber geben kann, welche Grundideen für eine Zeit, eine Kultur charakteristisch sind.


In der Renaissance zum Beispiel gab es einen engen Zusammenhang zwischen der Bildkomposition in der Malerei und der Ausbildung von Kaufleuten in den Sekundarschulen, die am zügigen Rechnen und blitzschnellen Erfassen von geometrischen Formen in der Lebenswelt orientiert war.

Julie Monaco, cs_04/1_Exitus
Das 1 Bild von 11 Uni katen, 73 × 91 cm Öffnungsdatum: 5 April 2017

Wenn man im städteübergreifenden oberitalienischen Handelsverkehr den Umfang und das Gewicht von Waren einschätzen wollte, die in Säcken und Fässern, in Ballen oder Zisternen auf den Markt gebracht wurden (bei ganz unterschiedlichen Maßeinheiten in den jeweiligen Städten), war es nötig, sie auf berechenbare geometrische Körper zu reduzieren. Weiterlesen

Vorauseilende Botschafter

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Die ikonische Kraft von Filmstills – eine Ausstellung in der Albertina

Marilyn Monroe im tief ausgeschnittenen weissen Sommerkleid labt sich an der kühlenden Luft, die an einem heissen Tag einem Schacht entsteigt, der Luftzug wirbelt den Petticoat hoch und zeigt ihre wohlgeformten Beine – wir kennen das Bild, das, fast lebensgross neben der Tür aufgehängt, den unscheinbaren Eingang zur «Film-Stills»-Ausstellung in der Wiener Albertina zu einem lockenden Portal in die Welt des Kinos transformiert. Wie eine Säulenheilige aus dem Himmel der Filmgötter entstiegen erscheint Marilyn hier, ihr Bild wird von einem Untoten, Murnaus «Nosferatu», flankiert, dessen erotisches Aktionsfeld die schwarze Nacht ist. Auch bei diesem Bild handelt es sich, wie schon bei der Aufnahme der ausgelassenen Marilyn, um ein Filmstill.

Marilyn Monroe und Tom Ewell in Das verflixte siebente Jahr, Regie: Billy Wilder, 1954 C. Sam Shaw Inc.- licensed by Shaw Family Archives, Privatsammlung

Eine unterschätzte Aufgabe
Filmstills sind auf potenzierte Weise vorauseilende Botschafter einer durch und durch künstlichen Welt. Weiterlesen