Als Aenne Biermanns schlankes Büchlein mit 60 Fotografien und einigen bereits andernorts ähnlich publizierte Thesen zur Fotografie von Franz Roh im Jahr 1930 im Verlag Klinkhardt & Biermann erschien, hatte, wie Hans Michael Koetzle in einem schönen Essay darlegt, der Verlag Großes vor: Franz Roh wollte gemeinsam mit dem Typografen Jan Tschichold und Mitstreitern eine eigene „Fototek“ herausgeben, die Titel weiterer Bände waren schon angekündigt. Das Erscheinungsbild von Biermanns Buch, so Koetzle, als kostengünstige Autotypie statt im Kupfertiefdruck sei ein „Vademecum des Aufbruchs“. Die finanzielle Situation und Hitlers Machtergreifung setzten den Plänen des Verlags ein Ende, die anvisierte Reihe der Fototek musste sich mit zwei Bänden begnügen. Schaut man das jetzt wieder zusammen mit dem Nachwort von Koetzle neu aufgelegte Buch an – und man sollte sich trotz des knappen Formats Zeit nehmen, um den Zauber einer vergangenen Zeit und Fotokultur auf sich wirken zu lassen – kann man sich kaum dem Sog entziehen, welche die Bilder der wohlsituierten und selbstbewussten Autodidaktin auf Zeitgenossen und Fotograf*innen ausübte. Sehr bald schon hatte die junge Fotografin, die schon früh an einer Krankheit verstarb, ihren Platz in der zeitgenössischen Fotografie eingenommen.
Die Anordnung der Bilder setzt Maßstäbe für die Besonderheit des Mediums Fotobuch: Sie arbeitet mit Korrespondenzen von Formen und Verschattungen im Gegenüberstellen ganz unterschiedlicher Themenbereiche. Der besondere Blick der Fotografin scheint so auch auf die Betrachter*innen überzuspringen. Aenne Biermanns Aufnahmen zeigen Pflanzenbilder, die Schnittfläche eines halbierten Rotkohls, die stark vergrößerte Maserung eines Achats, behutsame Aufnahmen ihrer Kinder im gekachelten Badezimmer, die grazil wie Pflanzen und ein wenig scheu der Prozedur des Reinigens gegenüberzustehen scheinen. Wir sehen die Rückansicht einer Dame, die einen Schimpansen wie ein größeres Baby hält, sein um ihre Schultern geschlungener Arm macht sich auf den ersten Blick wie ein spitz zulaufender Pelzbesatz auf dem hellen Sommerkostüm aus. Das Muster ihrer Kleidung, das an Flechtwerk erinnert, findet seinen Fortsetzung im gegenübergestellten Porträt einer Dame mit Strohhut, auf deren Gesicht die Sonne ein feines Geflecht von Schatten gezaubert hat.
Ein ganz besonderen Reiz entfaltet sich in der Gegenüberstellung zweier Strandfotografien: Auf der linken Buchseite sehen wir in Rückansicht gekrätschte Beine bis zum Schritt der dunklen Badehose und durch die Beine hindurch den Schattenwurf, der an eine archaische Zeichnung erinnert. Rechterhand begegnen wir der Halbansicht einer versonnen blickenden Frau in Badekleidung. Sie hat um das kurz geschnittene Haar ein malerisches Band geschlungen, im Hintergrund scheint der nackte Oberkörper eines eher schmächtigen, verletzlich wirkenden jungen Mannes auf.
„Dau-ern, Den-ken, zu-recht-finden..“ und das heute fast schon verschwundene Wort „lang-mächti-gen“ – diese mit dem Bleistift in ein Heft geschriebenen Übungen zur Silbentrennung liest man in einem aufgeschlagenem Schreibheft, auf dem nach getanem Werk die gefalteten Hände eines Grundschulkindes ruhen. Die Aufnahme ziert das Titelbild des Buches und steht gewissermaßen programmatisch über Aenne Biermanns Arbeit. Im Band selbst ist sie neben einer Fotografie mit einem aufgeschlagenen Ei zu sehen, dessen Schalen unregelmäßig zerbrochen sind. Wie kann Fotografie, das Medium, das der Flüchtigkeit der Zeit Herr wird, dazu beitragen im „langmächtigen Denken“ und sich Zurechtfinden? Aenne Biermanns Band durch die Neuauflage wieder in die Zeit gefallener Band lässt uns behutsam in den Imaginationsraum der Fotografie eintreten, statt des ungeduldigen „wisch und weg“, wie es heutigen Rezeptionsgewohnheiten entspricht. Die meisten ihrer Bilder und die Negative überstanden indes den Krieg nicht, ihr Mann, der selbst als Jude aus Nazideutschland fliehen musste, hatte sie nach Palästina eingeschifft, sie gingen verloren.
Anne Biermann. 60 Fotos mit einer Einleitung von Franz Roh. Erweiterter Neudruck der Publikation. Klinkhardt&Biermann Verlag 2019, 22 Euro
zuerst erschienen in Photonews Nr. 5/19 – Mai 2019