Auszeit

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Quer durch die Fotografiegeschichte sind sie anzutreffen: Aufnahmen von Wartenden in öffentlichen Verkehrsmitteln. Worin liegt der Reiz dieser Fotografien, was sagen sie über eine Zeit, und bieten sie darüber hinaus gar eine bisher unbeachtet gebliebene Reflexion der fotografischen Situation?

Welche Art Sehnsüchte und kollektive Traumata, aber auch welche Fertigkeiten und Erfahrungen nonverbal von Generation zu Generation weitergereicht werden und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle Mentalitäten formen, beschäftigt Dichter ebenso wie Ethnologen, Analytiker und Soziologen.

In die Höhe strebende Äcker
Mit bösem Blick auf das kulturelle Selbstverständnis der Amerikaner nimmt Alexander Kluge in seinem Buch «Tür an Tür mit einem anderen Leben» (Suhrkamp-Verlag 2006) dieses Interesse in den Blick. Unter der Überschrift «Das Land des Euphrat und des Tigris mit der Seele suchend» stellt er einen amerikanischen Militär im Irak vor, seines Zeichens Major und Altphilologe. In seinen Forschungen hat er sich mit der 6000-jährigen «Geschichte der landwirtschaftlichen Revolution» beschäftigt und betrachtet den Krieg im Irak als eine Art Rückkehr in eine imaginäre «Heimat»: Seine Leute, allesamt aus New York, die jeden Tag vor ihm anträten, zitiert Kluge seinen imaginären Gewährsmann, trügen die gesamte Vorgeschichte in sich. Insofern hege jeder von ihnen in seinem Herzen einen Bauern Assyriens. Myers bestehe auf der Präsenz der Stadt Uruk in uns, schreibt Kluge: «Solche Städte sind aufeinandergeschichtete, in die Höhe strebende Äcker. Es beruht auf Verwechslung, sie Städte zu nennen.» Das, was im Zweistromland einst entstanden sei, behaupte Myers, werde mit «unseren Armeen» und den dazugehörigen Zivilkräften an seinen Ursprungsort zurückkehren. Westlicher Geist sei geborener Osten. Zum Chaos komme es dadurch, dass wir den Blitzkrieg im Irak für den Anfang des Geschehens hielten: «Tatsächlich bewegen sich unsere Seelen schon immer in Richtung des Halbmondes.»

Kluge illustriert diese seltsame Behauptung des Majors mit einer Fotografie, die Ausgrabungen zeigt: drei Köpfe aus Stein oder Ton im Profil, eine Frau und zwei Männer; die Männer transportieren Lasten auf dem Kopf. «Leute von Ur. 5000 Jahre alt. Sie haben den Pflug, das Rad, die Keilschrift, die Buchhaltung, die Astronomie, die Gesetze, die <Liebe auf Grund von Verträgen>, <das Fingerspitzengefühl im Geiste>, die Kooperation, eine Vielzahl von Göttern, die Städte (einschliesslich Hochbau) und das <Ich> (das Selbstbewusstsein) erfunden», untertitelt Kluge die Abbildungen. Die Fotografien sind einer Publikation von André Parrot zu den Sumerern aus den sechziger Jahren entnommen, Mitherausgeber ist André Malraux, der den Begriff des «imaginären Museums» geprägt hat und damit die Summe der Bilder bezeichnet, die eine Zeit zu ihrem Kulturerbe zählt.

Kluges merkwürdiger Major ist natürlich nicht der Erste, der die Vorgeschichte einer Kulturstadt als Metapher für schwer nachvollziehbares psychisches Erleben heranzieht. Der Gebrauch der Stadtmetapher geht hier zurück auf Sigmund Freud, der in seiner Schrift «Das Unbehagen in der Kultur» versucht, anhand der wechselvollen Baugeschichte Roms und der durch Grabungen erschlossenen Kulturzeugnissen die psychische Organisation zu veranschaulichen. Alle entwicklungsgeschichtlichen Stadien der geistigen und emotionalen Entwicklung fänden sich im Unbewussten gleichzeitig nebeneinander, ähnlich wie die Gegenstände, die in einem archäologischen Grabungsfeld zum Vorschein kommen. Nur ist hier nichts zerstört worden, sondern alles bleibt, folgt man Freud, in der Psyche für immer virulent.

Abstieg in die Unterwelt
Ebenso wie Kluge und Freud führt auch Walter Benjamin diese Metapher vor Augen, als er im Exposé für das «Passagenwerk» eine Beziehung zwischen den Orten herstellt, welche die Griechen in der Antike als Abstieg in die Unterwelt auswiesen, und dem Metropolenbewohner des späten 19. Jahrhunderts. Kurz ist der Weg vom pulsierenden Leben des zeitgenössischen Paris in die geschlossene Welt der – zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich heruntergekommenen – Passagen. Der Flaneur kann sich dort in einem durch Reklameaufschriften und skurrile Schilder ausgewiesenen Mikrokosmos einen Einblick in verborgene und gerne verleugnete Seiten der eignen Gesellschaft verschaffen.

Gut ein halbes Jahrhundert später findet Benjamins Analogie durch den französischen Anthropologen Marc Augé eine Art Fortsetzung. Augé nimmt die Unterwelt des Verkehrs und die mentalen Auswirkungen auf den Fahrgast des 20. Jahrhunderts in den Blick. Die heutigen «Nicht-Orte» des Transfers, wie Augé die globalisierten Warteräume der Passagiere nennt – also Flughallen und Flugzeuge, Bahnhöfe und Grossraumwagen, Bushaltestellen, Ampeln, Metrostationen und Waggons –, sind Räume des Übergangs. Hier tut der Passagier vor allem eines: Er wartet. Er wartet darauf, von A nach B gebracht zu werden, und befindet sich, einmal in den Zügen angekommen, in einer temporären Auszeit. Marc Augé hat Mitte der achtziger Jahre der Situation in der Pariser Metro einen längeren Essay gewidmet: «Ein Ethnologe in der Metro», und das Thema zwanzig Jahre später noch einmal aufgegriffen: «Le métro révisité. 20 ans après» (Editions du Seuil 2008). Die Pariser Metro ist in seinen Augen mehr als nur ein banales öffentliches Verkehrsmittel: Wer sich in die Metro begibt – und wir können uns überlegen, ob das genauso für jedes andere öffentliche Transportsystem gilt –, unterwirft sich temporär einer Ordnung aus Wegen und Zeichen, einem System, das er durchläuft, ohne den äusseren Umständen mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig zu schenken. Ab und an gibt er einem Musikanten oder Bettler Geld, der Ethnologe liest das als eine Art rituelle Opfergabe. Das Metro-Netz, seine Gänge und Stationen schaffen ein hochsymbolisches Feld. Die Namen der Stationen sollen die Erinnerung an siegreiche Generäle und gewonnene Schlachten aufrechterhalten. Besondere Bedeutung kommt den Umsteigestellen zu, den «correspondances», an denen sich Verkaufsbuden und Imbissstände angesiedelt haben: «Sind solche Orte (öffentliche Plätze, Märkte, Wegkreuzungen) nicht in allen Zivilisationen Kultstätten gewesen? Welchem Hermes opfern wir?», fragt Marc Augé. – Ähnliches hatte vor ihm Pierre Mac Orlan schon 1930 in seinen Betrachtungen zu Eugène Atgets Paris-Fotografien bemerkt: «Das <gesellschaftlich Fantastische> bewohnt die Nächte der Städte. Es ergötzt sich an diffusen Lichtern und verleiht alten religiösen Prinzipien einen volkstümlichen Charakter, dessen zahllose Verlockungen legendär sind.»

Eine Kulturgeschichte des Wartens
Was aber geschieht, wenn die Wege zurückgelegt sind und der Passagier im Gedränge oder im leeren Waggon für befristete Zeit sich selbst überlassen bleibt? Was passiert mit Leuten, die täglich eine bestimmte Strecke in der U-Bahn zurücklegen in einer temporären «communitas», die darauf beruht, sich gegenseitig möglichst zu ignorieren oder doch zumindest nicht im Weg zu stehen? Der Blick durchs Fenster zeigt nur schwarze U-Bahn-Schächte oder -Stationen, die Mitfahrenden sollte er nur kurz betrachten, damit sie sich nicht belästigt fühlen, für ein Gespräch mit einem Unbekannten bedarf es eines Anlasses.

Die elektronischen Medien haben das Problem des Alleinseins in der Gemeinschaft ein Stück weit aufgehoben, das Moment introvertierten Unbeobachtetseins, wie es die heimlich aufgenommenen Fotos von Walker Evans in der New Yorker U-Bahn zeigen, verschwindet. Was man auf ihnen zu sehen bekommt, sind müde Menschen, die sich in einer Zwischensituation befinden: zwar noch in der Öffentlichkeit, aber in einer fast schon privaten Zurückgezogenheit. Noch kann man es sich nicht bequem machen, aber man muss auch nur noch bedingt eine Rolle spielen: Man ist erst einmal nur Passagier, was eine gewisse Entlastungsfunktion mit sich bringt, solange sich in der Umgebung keine aufregenden Ereignisse abspielen. Das Motiv temporärer Selbstvergessenheit im öffentlichen Leben hat westliche Fotografen zu unterschiedlichen Zeiten angezogen, vielleicht auch wegen des überaus kritischen fotografischen Moments: Der Fotograf nimmt etwas auf, was zwar öffentlich ist, aber doch zugleich ein Stück in der Situation unbedingt zu respektierende Intimsphäre ins Bild setzt. Vergleicht man Fotografien von Passagieren oder Wartenden in öffentlichen Räumen, so lassen sich zeitspezifische Veränderungen und Differenzen ablesen: Eine visuelle Kulturgeschichte des Wartens, der Anonymität, der Selbstvergessenheit ist so entstanden, aber wir können auch – über Jahrzehnte hinweg – die konkrete Auswirkung von architektonischen Vorgaben auf den Menschen studieren.

Kennt das Warten Posen? Nimmt das Warten zeit- und kulturbedingt unterschiedliche Formen an? Zeigt der Fotograf selbstversunken Wartende in Momenten, in denen sie zu kindlichen Erfahrungsformen der Langweile zurückkehren, die sie sich mit Abschweifungen, Träumereien, individuell-magischen Praktiken zu verkürzen suchen? Oder ist es einfach nur Leere, in die der beschäftigungslose Mensch fällt, schwer zu ertragen und zu akzeptieren in unserem Kulturkreis? Gibt es ein Glück des Wartens, der zeitweiligen Auszeit, oder ist es nur unausgefüllte, als stumpf und doch zugleich anstrengend empfundene Zeit?

Und was geschieht mit dem Betrachter dieser Fotografien – ist er ein Beobachter, der teilnimmt, oder fühlt er sich als unbehaglicher Voyeur?

Temporäre Entlastung
Fotografische Studien von Wartenden zeigen kulturspezifisches Raumverhalten: Solange sich nur wenige Menschen auf grossen Warteflächen verteilten, bemerkt Frank Schinski, der Verkehrsknotenpunkte aller Art, von der Rolltreppe über den Busbahnhof für Fernreisen bis hin zum Flughafen aufnimmt, lasse sich ein Verschwinden, ein Sich-Einordnen in die Architektur beobachten: An einer Moskauer U-Bahn-Station steht vor jedem Pfeiler ein Passant und übersieht «sein Gebiet», so wie einst Karyatiden und Atlanten an der Fassade gründerzeitlicher Bürgerhäuser über das Treiben auf der Strasse wachten. Man wahrt, so lange wie möglich, Distanz. Wenn auch bei der U-Bahn zunächst das einfache Lösen eines Fahrscheins das Recht auf Anwesenheit ausreichend begründet, während auf Flughäfen ausgiebige Identitätskontrollen vorgenommen werden und dadurch eine Art «Unschuld» entsteht, die den Geprüften von seinen bisherigen Aufgaben für die Zeit der Reise entbindet, so ist doch allen Verkehrsmitteln eines gemeinsam: «Der Raum des Nicht-Ortes befreit den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen. Er tut nur noch, was er als Passagier, Kunde oder Autofahrer tut und erlebt», schreibt Marc Augé später in seiner grundlegenden Untersuchung «Nicht-Orte» (Beck-Verlag 2010, frz. 1992). Diese nivellierende Funktion ist ein zeitgenössisches Phänomen.

Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert brachte die Konfrontation des Einzelnen mit der unbekannten Menge in der Literatur den selbsternannten Detektiv auf den Plan. Er versuchte aufgrund minimaler Abweichungen im Habitus, Passanten und Mitreisende einzuordnen, jeder barg ein Geheimnis. Heute möchte man diesen Geheimnissen nicht mehr auf den Grund gehen, sondern ist damit zufrieden, nicht belangt zu werden, zumal man immer wieder zum unfreiwilligen Zeugen von Handy-Telefonaten wird und dabei oft mehr über den temporären Nachbarn erfährt, als man von ihm wissen möchte.

Die durchaus zeitspezifische Sichtweise des Fotografen schafft je nach ikonographischer und narrativer Tradition Nähe oder Distanz, sie ist soziologische Studie mit ästhetischen Mitteln oder gibt ein oft umstrittenes Angebot zur Identifikation mit den Protagonisten. Schauen Menschen aus dem Fenster und ist ihr offener Blick auf den Horizont gerichtet, so fällt es dem Betrachter leicht, im nachdenklich aussehenden «Mitfahrer» einen Menschen anzuerkennen, dessen Gedankenwelt man teilt: Fahren und Ankommen sind universelle Konstanten, so beginnen und enden Erzählungen. Schon nicht mehr alle Sympathien geniesst, wer unterwegs döst oder schläft. Das ist eine fast schon zu private Verrichtung im öffentlichen Raum, während der Fahrt im Zug gerade noch erlaubt, im Warteraum bereits verdächtig nahe am Asozialen: «Acedia» – die christliche «Todsünde» der Trägheit des Herzens, der Indolenz – scheint auf. Und würde man seinerseits seine Einwilligung dazu geben, beim öffentlichen Schlafen fotografiert zu werden? Wenn überhaupt, dann allenfalls von einer anonymen Überwachungskamera, die man als Fahrgast zu akzeptieren vertraglich gezwungen ist.

Vormediale Ruhe
Betrachtet man sich Fotografien von Walker Evans, Robert Frank oder Evelyn Richter, so scheint gegenüber Aufnahmen aus dem späten 20. Jahrhundert oder dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts eine vormediale Ruhe über der doch durchaus bewegten Welt der Verkehrsteilnehmer zu liegen: Noch hören sie keine Musik aus dem Walkman, noch sind sie nicht über Spiele ihres Handys gebeugt, noch müssen sie nicht ihren Lieben zu Hause mitteilen, wo sie sich gerade befinden, noch verschonen sie uns mit Details aus ihrem Intimleben oder geschäftlichen Verhandlungen, die nicht für unser Ohr gedacht sind. Walker Evans‘ Fahrgäste scheinen der Fahrt etwas abzugewinnen, Urbanität auch in ihrer eintönigen Form zu geniessen, noch in den Lichtreflexionen auf den Sitzen scheint in den Jahren der Depression der gebrochene Glanz der Metropole auf. Als Zeitungsleser sind sie indirekt und diskret mit der Aussenwelt beschäftigt und bewegen sich mit anderen für die Dauer der Fahrt im gleichen Zeitfenster. Zeitungslektüre in öffentlichen Verkehrsmitteln fordert zum unauffälligen Mitlesen auf, selten sind Schlagzeilen so interessant, wie wenn man sie beim Sitznachbarn mitlesen kann.

Die verwaiste Karte des Reisenden
In «Sans soleil», dem 1982 gedrehten Tokio-Film des französischen Regisseurs Chris Marker, erscheint diese Innenwelt als medial geprägtes Traumgeschehen: Die in der Bahn schlafenden Metropolenbewohner, allesamt recht gepflegt und sympathisch anzuschauen, scheinen den Schlaf in den Waggons wie ein Stück aus einer anderen Epoche eingebrachter Lebenskunst zu zelebrieren. Marker bricht die ruhigen, traumverlorenen Szenen auf, indem er Filmausschnitte aus Horror- und Sexvideos dazwischen montiert. Oder dienen diese Bilder gar als Stellvertreter, die Marker einblendet, um an die Existenz eines triebbestimmten Lebens zu erinnern, das auch der Grossstadtbewohner führt oder von dessen Bildern er zumindest umgeben ist?

«Der Jetsetter, den der Globus zu einer Ansammlung von Streckennetzen und Flughafenlounges zusammenschnurrt, ist heute freilich der Prototyp unter den Reisenden: Der Weg von A nach B gilt ihm als blödes Dazwischen», kommentiert Andrea Köhler in ihrem Essay zum Warten (Lange Weile. Über das Warten. Insel-Verlag 2007) die an Bedeutung zunehmend verwaisende innere Karte des Flugreisenden. Anders als von Bahnhöfen oder historischen U-Bahn-Stationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geht von den Wartezonen internationaler Flughäfen nur wenig mondänes Flair aus. Sie sind «Nicht-Orte» per se: kühl, austauschbar, pflegeleicht, nicht unangenehm, aber doch ziemlich langweilig. Und so zeigt Frank Schinski (Die Stadt. Vom Werden und Vergehen. Ostkreuz-Agentur der Fotografen. Hatje-Cantz-Verlag 2010) dann auch die Passagiere am Flughafen Heathrow: Sie schauen aneinander vorbei, auf die Abflugtafel oder in Richtung der Reklame. Wie ausgeschnittene Schattenrisse scheinen sie im Raum verteilt zu sein; laut elektronischer Zeitanzeige ist es 15.56 Uhr, über der Szene indes liegt eine fast unheimliche Zeitlosigkeit, als befände man sich auf Tauchstation am Meeresgrund. Eine andere Foto zeigt sechs Herren mittleren Alters in Anzug und Sakko vor einem minimalistischen Geländer aus Stahlrohr. Sie wenden dem Betrachter den Rücken zu und stehen beziehungslos nebeneinandergereiht, in gepflegter, aber völlig reizarmer Umgebung. Eine ähnliche Stimmung lautloser Enthobenheit findet sich in der Serie «Flights 91/08» des polnischen Fotografen Wojtek Wieteska. Die kühne Formensprache von Flächen, Kuben und reflektierenden Ebenen ist so dominant, dass vereinzelt ins Bild gekommene Passagiere ihren vorübergehenden Status kaum als Triumph über den überwundenen Raum oder die verkürzte Reisezeit verbuchen können, wie dies die Reisenden des 19. Jahrhunderts in ihren Eisenbahnabteilen taten. Sie bilden ein grafisches Element, erscheinen eher als Zahlen denn als Körper aus Fleisch und Blut.

Stagnation pur zeichnet das Warten auf Ämtern aus, und die Steigerung des Wartens ist das Warten im Arbeitsamt, in der Sozialbehörde oder im Krankenhaus. Auch hier herrscht interesseloses Nebeneinander, aber es ist – ungewollt – auf mehr Dauer angelegt, und das Publikum ist weniger durchmischt, als dies in öffentlichen Verkehrsmitteln der Fall ist. Auf Paul Grahams Ansichten (Paul Graham, Steidl-Verlag 2009) bilden die Wartenden ein Massiv aus Körpern, die sich der unbequemen Situation in Wartezimmern stellen. Man sieht die Menschen im Profil oder von hinten, der Blick fällt auf das wenige, das von der Situation ablenkt: Ein Mann, der gemeinsam mit vielen andern auf einer Bank wartet, versenkt sich in eine aufgeschlagene Boulevardzeitung, auf der eine nackte Frau abgebildet ist. Neben ihm sitzt eine junge Frau mit übereinandergeschlagenen Beinen im kurzen Rock, der Kopf des Pin-ups scheint auf ihrem Oberschenkel aufzuliegen, während der Betrachter über ihre Köpfe hinweg hochblickt zu einem in dieser Situation seltsam anmutenden Wandschmuck: Eine Grafik aus dem 18. oder 19. Jahrhundert ist fast auf Lebensgrösse vergrössert, ein Jüngling mit vollem Haar und Zylinder in der Hand scheint einen skeptisch blickenden, kahlen Alten um einen Gefallen anzugehen. Oder ein Kleinkind im rosaroten Jäckchen steht selbstbewusst mitten im Raum, während die gedeckt gekleideten Erwachsenen sich an den Wänden entlang der aufgestellten Bänke positioniert haben. Die Räume werden von den Rändern her bespielt, auf dem leeren Boden in der Mitte liegen Schnipsel, zerknülltes Papier und anderer Abfall.

Vor der Ampel
Kann das Warten vor Amtsstuben sich scheinbar unendlich in die Länge ziehen, so währt das Warten vor einer roten Fussgängerampel nur wenige Sekunden. Hier haben wir es nicht mit Passagieren zu tun, die auf ihren Transport warten oder die gerade an ihr Ziel gebracht werden, sondern mit Passanten, die in ihrem Lauf unterbrochen werden: Es ist eine sehr kurze, absehbare Zeit des Zwischenstopps, des temporären Stillstands, der alle zur gleichen Zeit anhält. Florian Böhm hat in seiner Studie «Wait for Walk» Menschen fotografiert, die neben- oder hintereinander an New Yorker Ampeln stehend darauf warten, dass sie weitergehen dürfen. Sie haben als direktes Gegenüber allenfalls die auf der anderen Strassenseite Wartenden, und das auch nur für kurze Zeit, fast unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. So stehen sie denn auch ungeordnet, wie es kommt, ein wenig unwillig ob der unfreiwilligen Unterbrechung, dem fremden Rhythmus, dem sie sich unterzuordnen haben, und doch bereit, das Signal abzuwarten. Man schaut nach vorn auf die Lichtanlage, das ist alles, was es an Gemeinsamkeiten gibt. Da die Situation auch gleich schon wieder vorbei sein wird, ist diese Auszeit so banal wie folgenlos. Ein hoher energetischer Effekt scheint von der Masse auszugehen, ganz anders als bei den Passagieren. Hier hat man die meiste Zeit, wenn auch im Rahmen der Strassen und Wege, noch die Herrschaft über die eigene Bewegung, gleich geht es weiter, und dauert es doch einmal zu lange, regt sich geballter Unmut und entlädt sich im Loslaufen. Das Thema lädt aber auch zu Spekulationen ein: Peter Lindberghs Wartende am Strassenrand (On Street, Schirmer/Mosel-Verlag 2010) beherbergen – scheinbar unerkannt – eine modisch elegante Schönheit unter sich. Ein wenig ausserirdisch mutet sie an, als handelte es sich um einen auf die Erde gefallenen Engel, auf den man wartet, ohne ihn zu erkennen, wenn er tatsächlich unter einem weilt: Marc Augé müsste an diesen oberirdischen, inszenierten Strassenszenen Gefallen finden.

Von oben betrachtet aber, wie es Julia Kissina (Shadow Cast People, Peperoni-Verlag 2008) – und vor ihr schon Umbo und André Kertész – mit ihrer Kamera von ihrem Balkonfenster aus festhält, ist es der Schatten, der den Menschen bezeichnet. Vollkommen anonym und abstrakt sind diese Passanten, jedoch von eigenwilliger kalligrafischer Schönheit, für die Fotografin ganz zum Zeichen geworden, nunmehr Akteure eines nahezu zeitlosen Schattentheaters.

Reflexion der fotografischen Situation

Das Warten in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Strasse oder Silhouetten von Passanten und ihr Schattenwurf sind als Thema immer wieder von Fotografen aufgegriffen worden. Bieten sie – zusätzlich zu ihrem ästhetischen Reiz und kulturkritischen Anspruch – nicht auch eine Reflexion des Mediums, das für gewöhnlich in Aufnahmen von Spiegeln, die das Geschehen auf einer zweiten Bildebene reflektieren und brechen, gesucht wird?

Lynne Tilman gibt in einem Gespräch mit dem amerikanischen Fotografen Stephen Shore (Stephen Shore: Uncommon places. America. Das Gesamtwerk. Schirmer/Mosel-Verlag 2004) diesem Gedanken vorsichtig Raum: «Im 19. Jahrhundert gab es häufig Landschaftsaufnahmen mit Figuren, die wegen des Massstabes hineingesetzt wurden», gibt Shore zu bedenken. «Man hat das Gefühl, sie würden dort ein für alle Mal bleiben, schwebend», greift Lynne Tilman den Faden auf: «Wenn Sie Menschen auf der Strasse fotografieren, wie in <Uncommon Places>, dann stehen sie bei Rot an einer Ampel. Wenn sie gehen, wirken sie geradezu unbeweglich. Offenbar sind sie schon immer in dem Foto gewesen. Mich erinnert dieser Effekt an unsere Beziehung zur Zeit, zum Tod, keine Fortbewegungen, fest an einen Ort gebannt. Das Soziale oder Kulturelle daran ist die Person in einem bestimmten Rahmen drinnen/draussen, ein künstlerisches Umfeld, die Menschen, die dieses Umfeld geschaffen haben, und alles ist reglos.»

Das Warten, ein stillgestelltes Moment inmitten der Bewegung im Wissen darum, dass es gleich weitergehen wird, die imaginäre Dimension, welche die temporäre Auszeit dem Wartenden eröffnet, das Betrachten banaler, visueller Strukturen in der nächsten Umgebung, die doch Zeugnis über eine Zeit und eine Kultur ablegen, all das ist auch Teil der fotografischen Situation.

zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung 19.02.2011 S.63

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