Gebrochene Liebe – Inge Moraths Österreich

29Inge Morath, die große alte Dame der Fotografie, die mit ihrer Kamera engagierte Zeitgenossenschaft, aber auch Witz und Menschenfreundlichkeit bezeugt, hat ihr Geburtsland Österreich mit der gebrochenen Liebe der Ausgewanderten betrachtet.

Der postum erschienene Fotografieband „Durch Österreich“ zeigt Werke aus den 50er Jahren und einige weitere Schwarzweiß-Fotografien aus späteren Jahrzehnten. Der brüchig gewordene Glanz der einstigen Reichs- und Residenzhauptstadt Wien bildet den architektonischen Rahmen für ihre Stadtansichten, die zugleich Bilder vom Leben der Menschen in der Nachkriegsära sind. Aus der zeitlichen Distanz von fast fünfzig Jahren fällt dem Betrachter dieser Fotografien zuerst das Veralten von Aktualitäten ins Auge: Fassaden, Reklame, Berufe, das bescheidene Leben der Alten, die Lustbarkeiten auf dem Prater – sie alle haben an Vertrautheit verloren und nehmen bereits einen Platz in der Erinnerung ein.

Eine visuelle Kontinuität eigener Art stellen Sphinxe und antikisierte Statuen dar, dazu gesellen sich barocke Heilige – die gesammelte Skulpturenpracht weltlicher und klerikaler Herrschaftsarchitektur, die das Stadtbild prägt. Wie sich die Menschen in dieser Stein gewordenen Geschichte bewegen, wie sie ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen und sich dabei stets doch im Bannkreis der Architektur einer untergegangenen Epoche bewegen, der man Kriegsbeschädigung und mangelnde Pflege ansieht, ist das große Thema des Buches.

Mit dem sicheren Blick für geometrische Entsprechungen, die den guten Fotografen traditionell auszeichnet, sind die Bilder tektonisch aufgebaut. Der Betrachter wird in einen Zeitsog eigener Art gerissen: hier das architektonische Erbe, dort der verhärmte Zeitgenosse, der für uns Heutige mit der Last der nationalsozialistischen Vergangenheit allmählich in die historische Ferne zu entschwinden beginnt. Die Sphinxe auf der Terrasse des Belvedere scheinen dann auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1978 auch fürsorglich dem Betrachter zugewandt zu sein, während Männer und Frauen mit Hüten sich über die Brüstung beugen, ein Ereignis verfolgend, das dieser nicht sehen kann.

Porträts von Künstlern und Intellektuellen folgen auf die Bilder der Statuen: ein Maler mit Löwenmähne stützt sich auf einen Stuhl, eine Schauspielerin posiert mit einem Gartenzwerg. Ein Psychiater wird in seinem zellenähnlichen Arbeitszimmer gezeigt, an der Wand hängt eine afrikanische Maske, eine Grünpflanze vegetiert in einem Plastikübertopf aus Korb-Imitat. Das Leben in der Provinz schließlich wird mit bedrängenden Aufnahmen vom Faschingstreiben im Schnee vorgstellt. Zum Sinnbild für die Hierarchie zwischen den Geschlechtern gerät der Bildaufbau einer Szene, die Mann und Frau beim Wandern zeigt: In der oberen Bildhälfte sehen wir ein Wegkreuz mit Christus in seiner Qual. Ein älterer Mann mit Rucksack wendet sich ihm zu. Der Abstand, der den Mann vom Kreuz trennt, ist genauso groß wie der Abstand, den die Frau zum Mann einhält, dem sie folgt. Die Köpfe beschreiben eine Diagonale: Die Spitze bildet das Haupt Christi, dann erscheint der mit einem Hut gezierte Kopf des Mannes (fast auf gleicher Höhe wie der Sockel des Kreuzes) – und ganz am Ende der Anordnung findet sich der Kopf der Frau, die eine einfache Wollmütze trägt.

Karl-Markus Gauss, der auf freundschaftlichem Fuß mit der 2002 verstorbenen Inge Morath stand, hat einen anregenden Text zur österreichischen Befindlichkeit geschrieben. Österreich vermittelte sich für einen, der seine Jugend in den frühen 70er Jahren im „tiefen Österreich“ verbracht hat, in der allgemeinen Rebellionsstimmung zuerst über die österreichkritische Literatur. Gauss, der sich später dem Werk vergessener Schriftsteller zuwandte, um sie dem Dunkel, in das der Nationalsozialismus sie verbannt hatte, zu entreißen, fand in den Romanen, die er schätzte, eine „Höllenfahrt, eine Expedition in die Abgründe der Niedertracht“. In seinem sehr persönlich gehaltenen, angenehm zu lesenden Bericht räsoniert Gauss über die ewig gestrigen Figuren seiner Kindheit und über das immer gespaltene Verhältnis des österreichischen Schriftstellers zu seinem Land. Schade nur, dass der wohlformulierte Essay vor den Bildern und nicht nach den Bildern platziert worden ist – er verstellt so fast ein wenig die Sicht auf die Bilder, die eine ganz eigene, unverkennbare Sprache sprechen.

Durch Österreich. Inge Morath: Fotografien, Karl-Markus Gauss: Text. Hrsg. v. Brigitte Blüml u. Kurt Kaindl. Salzburg: Otto Müller Verlag (Edition Fotohog) 2005, 104. S., 74 Fotografien, 36 Euro
zuerst veröffentlicht: Süddeutsche Zeitung 16.01.2006