Eine Monografie über das Lebenswerk von Bernd und Hilla Becher
„Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“ mahnte Paul Cézanne die Zeitgenossen. Das „Vergehen der Welt, in die man so vernarrt ist“ im Bild festzuhalten, ist zentrales Anliegen von Bernd und Hilla Becher. Mit seinem umfangreichen Lebenswerk und seiner Lehrtätigkeit hat das Fotografenpaar der Industriearchitektur einen festen Platz im Archiv der Erinnerung verschafft und zugleich einen kaum hoch genug zu veranschlagenden Beitrag zum Einzug des Mediums Fotografie in die Kunstmuseen geleistet. Fotobücher der Bechers, in denen die Gegenstände ihres Interesses als anonymes Zeugnis einer ständig in Veränderung sich befindenden Epoche dokumentiert sind, gibt es seit den 70er Jahren. Aber erst jetzt ist im Schirmer/Mosel Verlag, in dem auch die Gesamtausgabe des Werkes publiziert wird, eine Monographie über ihre Arbeit erschienen. Der Band enthält eine Studie von Susanne Lange zu den Werkgruppen und zur Arbeitsweise, eine umfangreiche Auswahl von Fotografien zu den verschiedenen Objektbereichen sowie eine Zusammenstellung verschiedener Interviews und Arbeitsberichte aus einem Zeitraum von fast vierzig Jahren.
Das Buch stellt wissenschaftliche Beschreibung und kunstgeschichtliche Einordnung in den Rahmen enzyklopädischer Fotografieprojekte der 20er und 30er Jahre. Die visuelle Wirkung der großformatig wiedergegebenen Fotografien selbst, sowie die Aussagen der Künstler stehen gleichberechtigt nebeneinander. So wird die eigentümliche Ambivalenzerfahrung, die Werk und Wirkung der Bechers ausmacht, im Wechsel der Betrachtungsweisen selbst einsichtig: Leidenschaft und der Wille zur Ordnung beseelen Fotografen wie Rezipienten gleichermaßen.
Bernd und Hilla Becher sehen sich „verantwortlich“ für Bauten und Objekte der Jahre 1890 – 1960 in den klassischen Industrienationen Deutschland, Frankreich, England, Belgien und Nordamerika. Hochöfen und Förderanlagen sind für sie die „Sakralbauten des Calvinismus im 20. Jahrhundert“. Gleichzeitig aber handle es sich um „nomadische“ Architektur, die spätestens nach 100 Jahren wieder verschwunden sein wird, ohne für die Nachwelt bewunderungswürdige „Ruinen“ hinterlassen zu haben: „Die Industriebauten verbrauchen sich selbst durch Hitze, Rost und Erschütterung. Kaum stillgelegt, sind sie kaputt.“ Wohl aber prägen ihre „anonymen Skulpturen“ für eine Weile das Landschaftsbild. Für den im Siegerland aufgewachsenen Bernd Becher bedeuteten sie die „Landschaft“ seiner Kindheit. Das Werk der Bechers besitzt durchaus eine politische Komponente: „Wir erlebten intensiv alle Krisen, zuerst die Erz- dann die Kohle- und schließlich die Stahlkrise“ betont Hilla Becher.
Angesichts des Umfangs der selbstgestellten Aufgabe hat das Paar das Feld beschränkt und sich strikten Regeln unterworfen. Diese Regeln sind einfach, sie müssen dies sein, will man sie über Jahrzehnte beibehalten. Allerdings ist es kein trockener Geist, der aus fehlender Anteilnahme auf atmosphärisches Lichtspiel und ungewöhnliche Perspektiven verzichtet, um auf das Wesentliche zu reduzieren und Formen miteinander vergleichen zu können. Pure Leidenschaft im Kleid äußerster Sachlichkeit kennzeichnet das Werk. Es ist nur zu einem kleinen Teil Pedanterie, in erster Linie aber Empathie, wenn man, wie die Bechers, bereit ist vor Ort, in nicht eben ansprechender Umgebung, zwei, drei Wochen auf mildes Licht zu warten, das keine harten Schatten wirft.
Bereits 1968 sind unverbrüchliche Grundregeln für die Aufnahmen formuliert: Dokumentiert werden Produktionsanlagen, keine „Produkte“, wie beispielsweise Brücken. Alle Objekte sollen sich klar von ihrem Hintergrund abheben, die ganze Struktur oder zumindest die wichtigen Teile sollen zu sehen sein. Schwierig ist das bei Hochöfen: das Röhrensystem soll in seiner Funktion für den Betrachter „lesbar“ bleiben, es darf auf der Aufnahme nicht zu ästhetisch ansprechenden, aber irreführenden Überlagerungen kommen. Das gewählte Objekt soll typisch für seine Epoche sein und sehr entscheidend sind seine „Zukunftsaussichten“: der Stand der Bedrohung durch Verfall oder Abriss, oder die Entwicklungsstufe, die der Bau innerhalb einer bestimmten Technik einnimmt. Fotografiert wird von einem leicht erhöhten Standpunkt, weil so das Objekt besonders gravitätisch erscheint. Nur bestimmte, genau festgelegte Ansichten eines Objektes werden fotografiert und nur, was sich in den Gesamtkontext einfügt, geht ins Werk ein. „Es ist eine Arbeit wie bei einem gut vorbereiteten Film“ kommentiert Bernd Becher die Vorarbeiten, die neben dem Aufbau von Gerüsten auch Rodungen umfassen können. Zusammengefasst zu „Typologien“, Tableaus auf denen zwischen 6 und 21 Aufnahmen zu sehen sind, können über große Zeitspannen hinweg Entwicklungen und Varianten einer Grundform verfolgt werden.
Der funktionale Zugang, der mit der Ordnung der Typologien, den „Linné in uns“ bedient und den Bechers international zum Durchbruch verhalf, erfährt, wie Susanne Lange es treffend beschreibt, eine eigenartige Metamorphose: Ehemals profane Objekte, die aus der „Idee des reinen Funktionalismus“ entstanden sind, werden vermittelt durch die Sichtweise der Bechers zu „Objekten von skulpturaler Qualität“ und erhalten dadurch „eine künstlerische Relevanz, die sich die Erbauer selbst kaum hätten vorstellen können“. Damit ist – auch – ein Prinzip der Kunstanschauung des 20. Jahrhunderts formuliert, zu der die Fotografie wesentlich beigetragen hat.
Susanne Lange: Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen. Bernd und Hilla Becher. Einführung in Leben und Werk. 247 Seiten, 53 Duotone-Tafeln, 135 Abbildungen, Schirmer/Mosel 78€
zuerst erschienen: Süddeutsche Zeitung 20.09.2005