Ein Traumbuch des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hat Hannah Höch mit ihrem nach siebzig Jahren erstmals vollständig publizierten „Album“ hinterlassen. Die Collage-Künstlerin hatte fotografische Abbildungen aus verschiedenen Jahrgängen der Berliner Illustrierten „Die Dame“, aber auch anderen Blättern ausgeschnitten und diese visuelle Beute in zwei Hefte der „Dame“ aus den Jahren 1925 und 1926 eingeklebt. Das Album umfasst 114 Seiten, die letzten Einträge werden auf 1933 datiert. Der unterschiedliche Vergilbungsgrad der Zeitungsausschnitte, die in ausgezeichneter Qualität wiedergegeben sind, verstärkt den Charakter des weit Zurückliegenden, ja Imaginären, den diese Bildsequenzen für den heutigen Betrachter annehmen. In der Regel sind die Fotografien, dem Stand der damaligen Technik entsprechend, schwarz-weiß bzw. in warmen Brauntönen gehalten. Einige Farbdrucke von gezeichneten Blüten oder Farbphotos, wie sie in Pflanzenfibeln der Zeit zu finden sind, setzen in sattem Blau visuelle Akzente. Auf jedem Blatt sind zwei bis acht Fotografien in unterschiedlicher Größe zu sehen, je zwei gegenüberliegende Seiten korrespondieren miteinander. Bereits durch diese Anordnung wird eine eigentümlich Bewegung des Hin- und Herschauens in Gang gesetzt: Das Auge gleitet von einem Bild zum anderen und folgt dabei nicht seinem eigenen Rhythmus, sondern den Vorgaben der Bilder. Sind Menschen oder Tiere zu sehen, ja selbst bei Puppen tritt verwirrenderweise dieser Effekt ein, folgt der Betrachter ihrem Blick. Und er wird so vom Blick des Anderen tief in ein Antlitz hineingesogen. Nur einen Lidschlag später aber scheint er geradezu aus dem Bild hinauszufallen, weil die nun gezeigte Schöne wie gebannt auf einen Vorgang außerhalb des Bildgeschehens schaut. Die nächste blickt zu Boden oder ist ganz in sich gekehrt. Der Raum, der sich zwischen Fotografie und Betrachter öffnet, scheint ganz vom Rhythmus sich hin und her bewegender Sequenzen bestimmt. Das gibt dem Album einen träumerischen, aber auch einen filmischen Charakter. Denn nicht nur mit dem Antlitz, dem seit je eine gewissen Magie innewohnt, ereignet sich dieser stumme Dialog. Auch bei anderen, aus ungewöhnlicher Perspektive aufgenommenen Fotografien, wie sie die Fotografen des „Neuen Sehens“ in den zwanziger Jahren propagiert haben, geschieht dieser bequeme ‚Transport‘. Das unternehmungslustig gewordene Auge scheint den Betrachter mit sich in eine Welt zu ziehen, die primär nach optischen Gesetzen aufgebaut ist. Hier dominieren die Linien, die Strukturen, die Bewegung. Eine „Säuglingsparade im Taufkleid“ , eine „erstaunliche Flugzeugaufnahme“ der Stadt New York oder „eine Anakonda Schlange auf der Lauer“ – zwar sind die Originalbildunterschriften mitunter erhalten geblieben – aber was auch immer zu sehen ist: Es tritt in Hannah Höchs Albumseiten in einen neuen, ganz auf visuellen Strukturen begründeten Zusammenhang ein.
Man hat spekuliert, ob Hannah Höch mit Ihrem Album einen Bildfundus und damit Vorarbeiten für spätere Collagen und Fotomontagen oder die Grundlage für Konzeptkunst geschaffen hat. Dies scheint angesichts der – visuell – wohlüberlegen Anordnung, ja der Komposition dieser Seiten eine müßige Fragestellung. Zeigt doch dieses Album, dass Hannah Höch für sich in Anspruch nehmen kann, die Montage als Medium der Zeit zu höchster Kunstfertigkeit entwickelt zu haben. Das Album ist eine visuelle Reflexion über Fotografie, wie sie wohl einmalig ist. Ihr gleichermaßen suggestiver wie analytischer Charakter kann in Hannah Höchs Bilderfolgen nachvollzogen werden. Das Album ist damit nichts weniger als eine Schule des Sehens. Darüber hinaus ist es für den zeitgenössischen Betrachter eine Einführung in die mediale – und damit traumhafte – Bildwelt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, gesehen durch das Perspektiv der Massenmedien. Manches ist uns heute fern, so die Gymnastik und Freikörperkultur der zwanziger Jahre. Bar jeder Erotik werden die Körper von Männern und Frauen zu Ornamenten gruppiert. Oder die dramatische Körpersprache des Ausdruckstanzes. Hier wird der Betrachter in eine imaginäre, psychotisch anmutende Welt entführt, wie sie uns in den frühen Filmen von Cocteau und anderen surrealistischen Zeitgenossen entgegentritt. Verschneite Winterlandschaften, mit noch vereinzelten Skiläufern erscheinen. In der Manier der zwanziger Jahre zurechtgemachte Schönheiten mit weichen Gesichtszügen finden sich neben prachtvollen Lilien. Innige Aufnahmen von Frauen fremder Ethnien bilden einen akzentuierten Kontrast zur rigiden Freikörperkultur. Man Ray, Tina Modotti, Karl Blossfeld, August Renger-Patsch sind mit ihren verstreut eingefügten Aufnahmen zeitgenössische Gewährsleute für die Kunst der Fotografie. Der eigentliche Begleiter durch das Buch, der in verschiedenen Kontexten auftaucht, ist ein Kind aus Bali, das mit weitaufgerissenen Augen in Trance gefallen ist. Gleich viermal wird das tanzende Kind gezeigt und avanciert damit zum Führer durch die fotografische Traumwelt des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sie Hannah Höch in diesem wunderbaren Album den Nachgeborenen zugänglich gemacht hat.
Hannah Höch: Album. Hrsg. von Gunda Luyken, Berlinische Galerie, Hatje Cantz Verlag 2004, 132 Seiten, 65 Abbildungen, 58 Euro
zuerst erschienen: Büchermarkt Deutschlandfunk Sendung 10.05.2004