Ich-loses Auge. Ein Band über Thomas Mann als fotographisches Objekt

35„Ich werde mich fotografieren lassen, die Rechte in der Frackweste und die Linke auf (…) drei Bände gestützt, dann kann ich eigentlich getrost in die Grube fahren“, schreibt der gerade 24 jährige Thomas Mann 1901 in einem Brief an seinen Bruder Heinrich. Die scherzhafte Vorstellung vom Salon des Fotografen, der als Vorhölle zur Gruft betrachtet wird, ist durchaus symptomatisch für Manns auch in späteren Jahren noch recht kritisches Verhältnis zur Fotografie. Porträtfotografien gehören für den Erfolgsschriftsteller zu den ebenso unumgänglichen wie wirkungsvollen Repräsentationsaufgaben.

Es existiert eine Reihe von exzellenten Studiofotografien: die Arbeiten von Man Ray, Lieselotte Strelow, Lotte Jacobi, und Yousuf Karsh zeigen in den dreißiger Jahren Thomas Mann als nachdenklichen, hellwachen, oder auch verschlossenen Zeitgenossen, der als erklärter „Liebhaber der Physiognomik“ am vielgestaltigen Ausdruck seiner eigenen Porträts bereits ein reiches Arbeitsfeld vor sich gefunden hätte. Dennoch kokettiert der Dichter, ungeachtet dessen, dass er es mit den besten Fotografen seiner Zeit zu tun hat, damit, dass er lieber stundenlang einem Zeichner Modell sitzen würde, als sich dem „blind-sehenden“, „ich-losen und exakten Apparat“ auszuliefern.

Eva-Monika Turck hat in ihrem schön ausgestatteten und großzügig bebilderten Essay Thomas Mann. Fotografie wird Literatur den Versuch unternommen anhand von Textbeispielen und Bildmaterial das Verhältnis von Thomas Mann zur Fotografie in einer kursorischen Werkanalyse darzustellen. So ansprechend der Band auf den ersten Blick erscheinen mag, so enttäuschend ist leider der Inhalt. Ausgangspunkt ist der Gedanke der Sammlung. Wie in einem imaginären Fotoalbum sollen Bild für Bild die Hinweise und Beschreibungen aufgeschlagen werden, in denen in Manns Werk Fotografien erwähnt oder beschrieben werden.

Aufgenommen werden auch Passagen, in denen Thomas Mann Personenbeschreibungen aufgrund der Vorlage von Fotografien angefertigt hat oder auch nur Textstellen, welche die Autorin an Fotografien erinnern. Naheliegend ist der Befund, dass auch Thomas Mann den Topos der engen Verbindung von „Fotografie und Tod“, der die rare literarische Beschäftigung mit dem Medium kontinuierlich von den Anfängen bis ins 21. Jhd. begleitet, literarisch fruchtbar gemacht hat.

Die Röntgenaufnahmen der Lungenkranken im Zauberberg, welche eine intimere und schonungslosere Darstellung des Inneren liefern als ein Porträt, bilden vielleicht den ironischen Höhepunkt dieser Tradition. Eva-Monika Turck beschränkt sich indes auf das Zitieren der einschlägigen Stellen und die ganzseitige Abbildung der Röntgenaufnahme einer Hand. Bei anderen Texten verfährt sie allzu eifrig. Da wird ein kleiner Nebensatz in der Erzählung Der Bajazzo zum Anlass genommen, weitgehende Spekulationen anzustellen. Die Hauptperson, so ist beiläufig im Bajazzo erwähnt, umgibt sich in ihrer Wohnung mit Photografien „die sie auf Reisen gesammelt hatte“. „Wie eines schönen fernen Traumes“ war in einem vorherigen Abschnitt der Erzählung zu lesen, erinnert sich der junge Mann bei der Niederschrift der Ereignisse seines bisherigen Lebens an Orte und Begebenheiten einer schon etwas länger zurückliegenden, langen Reise. Flugs wird die eher karge Reihe dieser Erinnerungssequenzen von Eva Maria Turck zur Schilderung von Reisefotografien erklärt.

Diese Fotografien, meint die Autorin weiter spekulieren zu dürfen, sind wahrscheinlich von einem Berufsfotografen gekauft. Lange Belichtungszeiten seien der Grund dafür, dass „menschenleere Fotografien“ gezeigt würden. Nichts von all dem steht aber in Thomas Manns Erzählung. Zur Bekräftigung sind indes sehr gute Reproduktionen von Reisefotografien Ende des 19. Jahrhunderts abgebildet. Sie zeigen allerdings keine menschenleeren Plätze, da von langen Belichtungszeiten zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr die Rede sein kann. Ob die abgebildeten Fotografien in einem anderen als einem illustrativen Verhältnis zu Manns Text stehen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht thematisiert. An anderer Stelle wird von der Beschreibung der Gerda Buddenbrook behauptet, sie ähnle einer pikturalistischen Fotografie, der dazu zitierte Text kann den Nachweis nicht erbringen.

Nun ist es nichts Neues, dass Thomas Mann unterschiedlichstes Bildmaterial als Vorlage für seine Personenbeschreibungen benutzt hat, Abbildungen von Gemälden, Stichen, Fotografien, ohne dass dabei aber den Beschreibungen spezifische Merkmale ihres Mediums „anzusehen “ sind.
Für Thomas Mann war, wie vor ihm für die Realisten, der Vergleich mit einem Fotografen „die größte Beleidigung“: „Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe, was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun?“ verwahrt er sich vor allzu schnellen Gleichsetzungen. Eva-Monika Turck referiert Manns Texte entstellt, um sie desto unbekümmerter den Albumblättern einer fragwürdigen Sammlung einpressen zu können. Ein schönes Bilderbuch ist es trotzdem geworden, so man von den Anforderungen an seine akademische Zuverlässigkeit weitgehend absieht.

Eva-Monika Turck. Thomas Mann. Fotografie wird Literatur. Fischer, 112 S., 29,95 €
zuerst erschienen: Büchermarkt Deutschlandfunk Sendung 05.04.2004