Eine in ihrer kühlen Schönheit zurückhaltende und doch mit ihrer Unnahbarkeit lockende Welt tritt dem Betrachter von Axel Hüttes Fotografieband „Terra incognita“ entgegen.
Dieser bietet eine Retrospektive der Arbeit des Künstlers über zwei Jahrzehnte hinweg. Rätselhafte Spiegelungen von Bäumen und Menschen im Wasser bilden mit zwölf Arbeiten den Auftakt. In schilfiges Dunkelgrün getaucht erscheinen Baumstämme und Laub. Das Blattwerk lässt in seiner Regelmäßigkeit an die Manier älterer Landschaftsmalerei denken, während man unversehens nach der „Staffage“ sucht: der menschlichen Gestalt im Vordergrund, die am Rande des Wassers steht. An ihr misst man die Höhe der Stämme, orientiert sich unwillkürlich, auch wenn sie klein, verschwommen, schemenhaft bleibt.
Der natürliche Spiegel des Wassers und eine fast entkörperlichte menschliche Figur bilden das Entrée des sorgfältig komponierten Buches. Dies ist durchaus programmatisch zu verstehen: in später positionierten Landschaften Hüttes bleibt der Betrachter, wenn auch nicht ungeleitet, so doch sich selbst überlassen. Einige unerbittlich sachlich gehaltene Straßenszenen aus Großbritannien in blendendem Schwarzweiß und Aufnahmen von nüchternen, verlassenen Innenräumen aus den achtziger Jahren folgen. Sie wirken im Kontext dieses Bandes als eine Hommage an die ästhetischen Vorstellungen von Bernd und Hilla Becher – Hütte selbst gehörte in den siebziger Jahren der Meisterklasse von Bernd Becher in Düsseldorf an. Die Vertikale der Bebauung bestimmt hier den Blick des Fotografen, der aber doch nie vergisst, nach einer Lücke Ausschau zu halten, sei es ein Durchblick, oder nur eine runde Form aus Beton inmitten kastenförmiger Uniformität. Der spanische Dichter Julian Llamazares, der einen bewegten Essay zum Band beisteuert, hört in diesem Vorgehen des Fotografen das Pochen eines „äußerst lebendigen Herzschlages.
Axel Hütte nimmt den Betrachter mit auf eine Reise in Landschaften von steinerner Stabilität und dennoch fragiler Schönheit, die tatsächlich von einem Ende der Welt zum anderen führt. Vor Urbanität berstende Skylines lassen bei Nacht den Himmel als undurchlässige Farbfront erscheinen. Massive Baukörper integrieren sich in eine durch Lichtreflexe aufgebrochene Struktur, unabhängig davon ob wir uns in Paris oder Beijing befinden. Porträts in schwarzweiß von Unbekannten und Künstlern wie Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Thomas Ruff schließen sich an. Sie zeigen ernsthafte, flächige, in sich ruhende Gesichter, die ihre Gegenwart dem Betrachter mitteilen, während der versonnene Blick auf ein inneres Erleben jenseits der Sichtbarkeit gerichtet zu sein scheint.
Lange aber wird man später bei nebelverhangenen Landschaften des Südens verweilen. Sie werden durchlässig für das Verstreichen von Zeit, wie wenig andere Sujets. Auch im Aufbau dieser Fotografien, die karge Landstriche in Spanien, Italien und Portugal zum Gegenstand haben, bietet Hütte dem Betrachter dieser „Terra incognita“ eine aus der Kunstgeschichte vertraute Sehhilfe: Am Bildrand befindet sich im Vordergrund ein Gebäude, ein Baum oder ein anderer Halt für das Auge. Man kann ihn vorsichtig abtasten, ehe man das Wagnis eingeht, sich im tiefgehaltenen, kaum strukturierten, in zarte Farben gehüllten Horizont minutenlang zu verlieren.
So verklingt allmählich die Scheu vor dem Offenen, der Weite, der Helligkeit. Ihr unvermittelter Anblick hatte einst Kleist angesichts von Caspar David Friedrichs romantischem Gemälde “ Der Mönch am Meer“ als ein Gefühl beschrieben, als wenn einem „die Augenlider weggeschnitten“ wären. Solche visuellen Schockwirkungen bleiben aus, auch wenn dem Betrachter mit diesen Fotografien eine an andere Dimensionen orientierte Zeitlichkeit entgegentritt. Am Ende des Buches steht die satte Farbigkeit und die üppige Fülle tropischer Urwälder. Der Kreis schließt sich mit Wasserspiegelungen. Ein letzter Blick ruht auf der abstrakten Auflösung der Konturen: Anhaltspunkte braucht das – im besten Sinne – „erzogene“ Auge des flanierenden Betrachters jetzt nicht mehr.
Axel Hütte: Terra Incognita. Photographien 1982-2003. Mit Texten von Julio Llamazares und Rosa Olivares. 176 Seiten, 84 Tafeln, 49.80 Euro, Schir-mer/Moselverlag München
zuerst erschienen: Büchermarkt Deutschlandfunk Sendung 15.12.2004