„Die Welt, die sich dem Auge darbietet, ist eine völlig andere als diejenige, die sich der Kamera zeigt“ schreibt Bernd Stiegler. Aus einer Fülle von literarischen und naturwissenschaftlichen Quellen rekonstruiert er in seiner Habilitationsschrift eine – aus heutiger Sicht eher trivial erscheinende – Einsicht in die medienspezifische Besonderheit der Fotografie, die im 19. Jahrhundert allerdings erst allmählich heranreift.
Vertraute und ferne Lebenswelten dokumentiert das neue Medium nüchtern, scheinbar unbestechlich und mit steigender Geschwindigkeit der Wiedergabe. Die Fotografie konserviert Sichtbares. Sie vermag aber auch, wie die Momentfotografie von Bewegungsabläufen zeigt, bisher unsichtbar Gebliebenes aufzuzeichnen. Stiegler verfolgt die veränderliche Wertschätzung der Fotografie in der wissenschaftlichen und poetologischen Diskussion und die eifersüchtige Auseinandersetzung mit der „Medienkonkurrenz“ in Literatur und Ästhetik. Zwei Linien zeichnen sich in der nicht sehr übersichtlich strukturierten Darstellung des zeitgenössischen Diskurses um die Fotografie ab.
Im ersten Teil seiner Arbeit zeigt Stiegler den Umbruch in der theoretischen Reflexion, besonders was die Debatte um die Naturtreue des Aufzeichnungsverfahrens angeht. So hatte William Henry Fox Talbot 1844 seinem ersten Buch mit Lichtbildern den programmatischen Titel „Zeichenstift der Natur“ (The pencil of nature) gegeben. Bald aber wird zwischen der Wahrnehmung der Natur, wie sie das unzulängliche menschliche Auge in seiner Sehschwäche bietet, der seelischen Nuancierung des Reizes und dem Aufzeichnungsverfahren der Fotografie unterschieden: damit verliert die Fotografie ihren anfänglichen Nimbus, unmittelbare Wiedergabe des Wahrgenommenen zu sein. Das fotografische Bild wird, so die These Stieglers, um 1880 als „Übersetzungsmedium“ gesehen, „das die Gegenstände in der Betrachtung verwandelt“.
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Analyse literarischer Texte und poetologischen Debatten. Hier zeichnet sich eine zweite Linie der Untersuchung ab: ein wohlbekanntes Thema ist die Verbindung von Fotografie und Tod. Von der phantastischen Erzählung bis zur Kriminalgeschichte dienen Fotografien im Plot dazu, Erinnerung zu evozieren und die Toten ins Leben zu rufen. Umgekehrt aber findet sich in ästhetischen Debatten der Vorwurf an die Fotografie, lebendiges Leben in stillgestellte, mortifizierte Bilder zu verwandeln. Keine Kritik am Stil eines Dichters des neunzehnten Jahrhunderts ist vernichtender als die Feststellung, er daguerreotypisiere seine Umwelt, statt sie zu beseelen.
Stieglers Arbeit besticht durch die Materialfülle und setzt zeitgenössische Quellen unterschiedlicher Provenienz zueinander in Beziehung. Hochgegriffen ist der theoretische Anspruch, der sich um allseitige Anschlussfähigkeit an die gängigen theoretischen Positionen der letzten Jahre bemüht und so leicht in den Verdacht gerät, modische Rahmenziselierung für philologischen Fleiss zu sein. Gerade hier aber mangelt es an Sorgfalt: sprachliche Ungenauigkeiten erschweren die Lektüre ebenso wie fehlgeschlagene grammatikalische Anschlüsse und kryptische Fussnoten, welche mitunter die Suche nach einer Textstelle sehr erschweren. Auch verärgern um zwanzig Seiten verspätete oder nie erfolgte Begriffserklärungen: die Bekanntschaft mit der Funktionsweise einer „Camera lucida“ sollte eigentlich ebensowenig vorausgesetzt werden wie die Kenntnis des „Reichenbachschen Od-Lichts“. Manche Passagen, wie die Darstellung von Talbots Arbeiten sind so verknappt formuliert, dass sie sich dem Leser erst dann erschliessen, wenn er Hubertus von Amelunxens einschlägige Studie zu Talbot zufällig neben sich liegen hat. Dann aber enttäuschen sie dadurch, dass sie kaum neuen Aspekte entwickeln. Der Autor setzt einen mit dem Gegenstand vertrauten Leser mit sehr guten Französischkenntnissen (auch umfangreiche Zitate werden nicht übersetzt) und einem universalen Textgedächtnis voraus; statt beiläufig im Zuge der Argumentation die zum Verständnis benötigte Textkenntnis aufzufrischen, werden Namen und Handlungsabschnitte zu einem recht verwirrenden Potpurri angerichtet.
Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink Verlag 2001, 472 Seiten mit 96 Abb.
zuerst erschienen: Neue Zürcher Zeitung 05.02.2002