Träume von zeitloser Schönheit.
Noch heute – in Zeiten elektronischer Bildbearbeitung – scheint von Porträts, die eine geliebte oder öffentlich bekannte Person abbilden, eine magische Bildwirkung auszugehen. Bis ins neunzehnte Jahrhundert erfüllten in erster Linie repräsentative Gemälde aber auch private Zeichnungen den Wunsch nach illusionistischer Wiedergabe des menschlichen Antlitzes. In der modernen Memorialkultur haben Fotografien ihren Platz eingenommen.
Wie zuvor das gemalte Bildnis der fernen Geliebten, das schützende Amulett, halten heute die Jugendfotographie des Partners im Portemonnaie oder ein aktuelles Starposter Träume von zeitloser Schönheit fest. Stets verspricht ein solches Bild mehr zu sein als das detailgetreue Abbild einer Person auf einem beschichteten Stück Papier. Aber gerade, wenn die Darstellung des Porträtierten wie aus dem Leben gegriffen zu sein scheint, verharrt das Bildnis in einem eigentümlichen Schwebezustand. Es gehört einem Niemandsland an, das seinen Ort sowohl im Hier und Jetzt als auch in der Vergangenheit einnimmt. Fotografische oder digitalisierte Aufnahmen wirken im öffentlichen Raum an einem visuellen Logbuch mit, das im Starkult des Medienzeitalters mit privaten Erinnerungen durchmischt wird. Fotos der Stars von gestern – von Elvis bis Che Guevara, von Kennedy bis Lady Di – bestücken ein imaginäres Bilder-Museum. Und ebenso wie populäre Musikstücke oder Gerüche lösen sie leise Wehmut aus, wenn man ihnen zu einem späteren Zeitpunkt wieder gegenüber steht: Anflüge eines längst vergessen geglaubten Lebensgefühls scheinen aus der Erinnerung aufzusteigen.
Der Kern dieser raum- und zeitübergreifenden Begegnungen mit sich selbst und dem “Anderen” ist allerdings keineswegs ein zeitgenössisches Produkt medialer Erfahrung im Umgang mit Bildern. Die imaginären “dates” sind nicht ein spezifisches Thema des zwanzigsten Jahrhunderts, das sich auf die “Suche nach der verlorenen Zeit” begeben hat. Sie sind bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert Gegenstand literarischer Weltentwürfe.
Ein eigentümliches literarisches Sujet.
Um 1800 taucht in der europäischen Literatur im Zusammenhang mit der Bild- und Erinnerungsproblematik ein eigentümliches Sujet auf: die erotisierende Wirkung von Bildnissen und ihre fatalen Folgen für den männlichen Betrachter. In immer neuen Durchläufen wird das Thema bis zur Mitte des Jahrhunderts variiert: Ein Jüngling sieht ein Gemälde, das eine junge Schönheit zeigt, in die er sich auf den ersten Blick unsterblich verliebt. Er macht sich daher auf die Suche nach dem schönen Mädchen, von dem er annimmt, das es dem Maler Modell gestanden haben muss. Die Suche nach der Frau wird darüber zur Frage nach dem Rätsel der unbekannten Herkunft des Jünglings – im genealogischen wie ontologischen Sinn. E.T.A. Hoffmanns Roman “Die Elixiere des Teufels” (1815/1816) arbeitet nach diesem Muster, “Franz Sternbald Wanderungen” (1798) von Ludwig Tieck, ein heute fast vergessener Roman der Frühromantik, gab das Vorbild.
Eine traditionsreiche Variante bezieht sich auf die Figur des Malers selbst. Dieser versucht vergeblich die absolute Schönheit in Gestalt einer Frau zu malen – die menschlichen Modelle sind zu irdisch. Findet er doch eines, so muss sie dies mit dem Leben bezahlen, wie in Edgar Allen Poes Geschichte vom “Ovalen Porträt” (1842), und in E.T.A. Hoffmanns “Jesuiterkirche in G” (1817). In Honoré de Balzacs Novelle vom “Le chef-d’oeuvre inconnu” (1832) wird der Maler wahnsinnig, entwirft aber doch in seinem Furor das erste “abstrakte Gemälde” avant la lettre. Im Ringen um die vollkommene Illusionierung hat er das Porträt solange übermalt bis für den nüchternen Betrachter nur noch ein graues Farbenmeer und ein eleganter Fuss zu sehen sind. Beim gemalten Bild ist es nie ganz sicher, ob das Modell für die porträtierte Schönheit tatsächlich lebt oder gelebt hat. Oder ob es nicht doch, wie in Balzacs Novelle exklusiv im Kopf eines schönheitstrunkenen Malers entstanden ist.
Philosophische Fallstricke.
Die Konstruktion der Plots scheint einfach, birgt aber einige philosophische Fallstricke. Warum beschäftigt die Verwechslung von Lebenswelt und medialer Darstellung, die ungesicherte Grenze zwischen Idealisieren und Wahnsinn so stark die dichterische Phantasie? Handelt es sich hier um die philosophische Frage nach der Reichweite der begrenzten Welt des Seins, und damit zugleich auch nach ihrem Pendant, der unendlichen, aber fragilen Welt des Scheins? Wie läßt sich der Widerhall erklären, den der Zauber der Bilder im leiblichen Empfinden des irritierten Betachters hinterläßt?
Interessiert man sich für letztere Frage, so wird ein Gegenstandsbereich sichtbar, der in der aktuellen Mediendiskussion fast verschwunden ist und der allenfalls noch mit Walter Benjamins schillerndem Begriff der “Aura” herbeizitiert wird. Zu Unrecht, denn er läßt eine Art Kontinuität zum Umgang mit den alten Bildmedien, den Gemälden, Zeichnungen und Statuen aufscheinen: es handelt sich um das Glück unmittelbarer Präsenz des ästhetischen Erlebens. Intensives Betrachten von Bildern, gleichviel ob es sich um Fotografien oder Gemälde handelt, kann – entweder als ästhetische Glückserfahrung oder idealisierende Projektion – ein schwer in Worte zu fassendes Hochgefühhl auslösen. Will man den Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts Glauben schenken, ist es den Zuständen des “Liebestrunkenen” zum Verwechseln ähnlich.
Wandel des Kunstverständnisses.
In den heutigen Starkults – es sind vor allem Aufnahmen von Männern, die bei Frauen und Mädchen heftige Emotionen auslösen – hat sich das Problem ein wenig verschoben: Macht, Geld und Ruhm scheint ein Antlitz begehrenswert zu machen und seine magische Ausstrahlungskraft zu bestimmen. Der Konflikt zwischen Lebenswirklichkeit und medialem Schein scheint heute nicht mehr zu Zweifeln an der eigenen psychischen Gesundheit oder zu Wahnsinnsattacken zu führen, wie im selbstverständlichen Umgang mit der virtuellen Schönheit Lara Croft deutlich wird. Dennoch gibt es mediale Verwechslungen im großen Stil, die heute nicht mehr an den Bildern, sondern ihren Repräsentanten, den Schauspielern abreagiert werden: Der Schauspieler ist der Frauenheld, den er spielt, die Identität des Körpers bürgt für die Wahrheit des Bildes.
Im neunzehnten Jahrhundert erscheint die Problematik weniger trivial, da sie eng an das zeitgenössische Kunstverständnis gebunden bleibt. Der Wandel der Perspektive spiegelt die Entwicklungen in der modernen Kunstgeschichte. Um 1800 beginnt die klassische Kunstbetrachtung das nüchterne Abwägen und Kunstrichtern der vorhergegangenen Epoche abzulösen, in der etwa der französische Kunsttheoretiker und Maler Roger de Piles (1635-1709) Noten vergeben hatte für Zeichnung, Farbgebung, Komposition, und Ausdruck eines Kunstwerks. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts preist zwar Johann Joachim Winckelmann die körperliche Schönheit männlicher antiker Statuen, gleichzeitig aber wird sie in der epochemachenden Formel von der “edlen Einfalt und stillen Größe” gebändigt und damit um ihr ekstatisches Moment gebracht.
Das unbeschreibliche Hochgefühl, das Kunstgenuss schenken kann, aber ist es, das die Autoren der Romantik fasziniert und in ihren Werken beschäftigt. Sie suchen es da, wo es – wenn auch in einem sakralen Zusammenhang – überdauern konnte: in der sakralen Kunst. Dort allerdings besteht das Verbot beim Betrachten des Kunstwerks religiöse Verehrung und erotische Empfänglichkeit als miteinander korrespondierende Bereiche menschlicher Erlebnisfähigkeit zu begreifen.
In der romantischen Literatur ist deshalb die Beschwörung der Wiederkehr archaischer Liebeskulte im christlichen Umfeld ein beliebtes Thema, welches das Tabu in der Rezeption antiker Kunstwerke aufzeigt. Eine Venusstatue betört in einer Halluzination einen rechtschaffenen Jüngling bei Joseph von Eichendorff. In E.T.A. Hoffmanns “Elixieren des Teufels” hat ein Maler die Statue einer Heiligen nach dem Körper einer Venus gebildet und mit dem Gesicht seiner Geliebten geziert. Die Ähnlichkeit einer ihrer Nachfahrinnen mit der Statue bringt einen Mönch um den Verstand.
Eine anthropologische Grundkonstellation?
Die Problematik, die in Romanen und Novellen zum Anlaß genommen wird, um eine – oft schwer überschaubare – Handlungskette von Wahnsinn, Verbrechen und Toten zu rechtfertigen, dreht sich immer um den gleichen Kern: profane Sexualität und sakrale Entrückung werden verbotenerweise miteinander vermischt. In den Blick kommt so – wenn auch unter negativem Vorzeichen – eine ekstatische Fähigkeit, die Künstler und Betrachter als menschliche Daseinsform positiv zu Gebot steht: Die schöpferische Erregung des Künstlers im Akt des Schaffens korrespondiert mit dem leiblichen Zustand des aufnahmefähigen Betrachters, der sich mit allen Sinnen auf das Kunstwerk einlässt. Diese Fähigkeit, zeitweilig aus den Begrenzungen des gewöhnlichen Daseins hinauszutreten, hat vor der Trennung von Kult und Kunst, vor dem Verschwinden des Bildes in der Unterweisung durch kunstgeschichtliche Führer den Umgang mit Bildern bestimmt. Robert Musil, der sich an andrer Stelle uber die Begeisterungsfähigkeit am falschen Gegenstand amüsiert und es geradezu peinlich findet, wieviel manche Leute empfinden, kommt in seinem Essay den “Ansätzen zu neuer Ästhetik” 1925 zum Schluss, dass hier anthropologische Grundkonstellationen vorliegen. Kunst bedeutet eine temporäre “Störung” des “Normalbewußtseins”. Ästhetische Erfahrung bewegt sich nahe der Welt des Irrsinns, aber gibt doch nur für einen privilegieren Moment den Blick in eine andere Welt frei. Verwurzelt bleibt sie im Hier und Jetzt. Diese Erkenntnis – aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts – bezeichnet zugleich den reflexiven Abstand gegenüber den Überlegungen zur Bildproblematik im neunzehnten Jahrhundert. Und sie ist nicht nur das Fazit aus dem Umgang mit einem neuen Bildmedium, dem Kino, das für Musils Überlegungen eine herausragende Rolle gespielt hat. Es spiegelt die Entwicklung in der modernen Kunstgeschichte wider. Diese begreift Kunst nicht mehr als fortschreitende Vervollkommnung in den Techniken illusionistischer Darstellung oder die Suche nach Schönheit, sondern als Umstrukturierung von Sehgewohnheiten. Zur Zeit von Musils Aufsatz war bereits der Kosmos kubistischer, dadaistischer und surrealistischer Ausbruchsversuche durchlaufen. Die neuen Sichtweisen in der Kunst auf dem Weg zur Abstraktion mag das Verschwinden der Bildproblematik aus der Literatur erklären. Bestehen bleibt aber die Notwendigkeit der Irritation, die von Kunst ausgehen kann und soll: der Schwebezustand, in den sie den Betrachter versetzt, das Niemandsland, das sie ihm eröffnet. Die geglückte Rezeption von Kunst kann Einblicke in die privatesten, aber auch die überindividuellen Glücksmomente bescheren. Für das neunzehnte Jahrhundert war die erotische Konnotation in der Rede über Kunst und das unterschwellige Thematisieren von Tabus symptomatisch, wie wir sie aus der Literatur der Romantik kennen und wie sie noch Theodor Fontane in “Effi Briest” oder “Cäcile” bei Gesprächen über Bilder aufgreift. Im zwanzigsten Jahrhundert tritt der mystische Grundzug der Bilderfahrung in den Vordergrund. Das Hinaustreten aus den gegebenen Grenzen der Wahrnehmung, wird in der Kunst zur Metapher, die das transportiert, was jenseits des Beschreibbaren liegt: die Fähigkeit zu Selbstbesinnung und Entrückung. Sie bleibt tief im privaten Erleben verwurzelt.
Die Zeitlücke, die sich beim Betrachten von Fotografien auftut, die den Parnaß privater Erinnerung schmücken und zu wehmütiger Rückschau einladen, klafft zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Man weiss um die körperliche Veränderung des porträtierten Menschen im Lauf der Jahre und doch vermittelt sein Abbild das Erleben erinnernder Präsenz. Mag es bei Kunstwerken als konstituierende Eigenart ästhetischen Erlebens gelten, bleibt diese Evidenz für das private Erinnerungsfoto ein ungelöstes Rätsel. Ein letzter Glanz scheint auf dem menschlichen Antlitz zu ruhen, an dem sich eine eigene Kontinuität der Kunsterfahrung zeigen läßt. Über die Vielfalt der Medien und ihre Eigengesetzlichkeit hinweg hat sie ihre Quelle im Gewahrwerden des eigenen Leibes.
Was sich verändert, ist die Formulierung der Fragen, die an das Porträt gestellt werden. Und die Antworten, die der Text den Lesern bereit stellt oder der Betrachter sich selbst geben muss. Aus der Bildersprache verbotener Erotik im neunzehnten Jahrhundert ist das Thematisieren ekstatischer Selbstbesinnung im zwanzigsten Jahrhundert geworden. Beide Jahrhunderte stellen damit auf ihre Weise die Frage nach der Macht der Bilder und dem Rätsel ihrer Herkunft. Und bestimmen Bilder damit zu visuellen Logbüchern für Begegnungen jenseits von Raum und Zeit.
zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung 27.02.2000 S.52