Schwindelerregende Steilvorlagen

Gustave Caillebotte und die Fotografie – eine Ausstellung in der Schirn Frankfurt

Der erst spät wiederentdeckte Impressionist Gustave Caillebotte, so verdeutlicht die Frankfurter Schirn, ist ein Maler der Moderne par excellence, der das neue Sehen im Zeitalter der Fotografie erschliesst.

Das lebensgrosse Bildnis eines melancholischen Flaneurs mit Spazierstock und Zylinder begrüsst den Besucher, der gerade die Treppen zu den Ausstellungsräumen emporgestiegen ist, vorbei an einer Museumsaufnahme von Thomas Struth, die frontal eine Strassenszene von Gustave Caillebotte (1848–1894) und deren spätere Betrachter in Rückenansicht zeigt. Wer Struths Museumsfotografien kennt, auf denen bunt gekleidete Museumsgänger in Dialog oder Konkurrenz zu den Bildern stehen, betritt lieber in gedeckter Kleidung die Räume.

Die Ausstellungsarchitektur (Karsten Weber / Beza Alemu-Pepper) lässt an eine Strassensituation mitten im Paris des 19. Jahrhunderts denken, für einen Augenblick sucht man nach Orientierung. Einige «Wege» entlang der Ausstellungswände führen zum modern umgestalteten Paris auf Fotografien von Charles Marville und Edouard Denis Baldus, andere leiten den Blick auf grossformatige Ölbilder, die das Auge anziehen: «Pont de l’Europe» (1876) zum Beispiel, eine Strassenszene, die von den kunstvollen Streben einer gusseisernen Brücke dominiert wird.

Ein junger Mann schaut versonnen von der Brücke herab auf Eisenbahngleise, ein wohlgekleideter Herr und eine zurechtgemachte Dame passieren die Brücke, sie scheinen plastisch aus der Szene herauszutreten, ein eigenartiger visueller Effekt. Daneben hängen zeitgenössische Fotografien, welche hochmoderne Eisenbrückenkonstruktionen zeigen. Unwillkürlich verfällt das Auge ins Vergleichen: Was kann die Fotografie, was die Malerei? Dieses Kräftemessen währt nur kurz.

Spätestens wenn man die dunklen, seidenbespannten Sonnen- oder Regenschirme, die Caillebotte so kunstvoll in Szene zu setzen weiss, auf einer Fotografie-Sequenz vom Karlsruher Marktplatz von Oscar Suck aus dem Jahr 1886 wiedererkennt, wird klar, wie stark das Auge dieses Malers, selbst wenn er nicht fotografiert oder keine Fotografien verwendet haben sollte, sich mit fotografischem Sehen befasst hat. Und wer einen Blick auf die stereoskopischen Aufnahmen (ein Vergnügen des 19. Jahrhunderts) wirft, die entlang der Wand in Guckkästen zu betrachten sind, meint mit einem Schlag den Schlüssel für die Plastizität der Figuren in «Pont de l’Europe» vor Augen zu haben.

Fotografien haben den Blick auf Stadtarchitektur und Landschaft so stark geprägt, dass es schwierig ist zu sagen, wo Maler fotografische Perspektiven verfolgen und wo Fotografen in Komposition und Blickführung das – nach dem Umbau von Haussmann plötzlich von Licht und klaren Linien geprägte – moderne Paris der Impressionisten aufnehmen. So ist es ganz schlüssig, dass das Auge sich in diesem Raum ungehindert, und durch immer wieder überraschende Blickachsen verbunden, der Korrespondenz der Strukturen überlässt. Balkongitter und Fensterbrüstungen, Litfasssäulen und Laternen, die Walter Benjamin im «Passagen-Werk» später als das «möblierte, ausgewohnte Interieur der Massen» beschrieb, halten auf Fotografien und Gemälden miteinander Zwiesprache (manchmal hat man sogar den Eindruck, dass Kästen und Bilder am Ende einer in den Raum gezogenen Ausstellungswand die Funktion des besonders gestalteten Eckhauses aufnehmen). Eine Folge von Aufnahmen zeigt Gitter, die das Wurzelwerk von Bäumen auf dem Trottoir formschön schützen, auch Caillebotte hat sie gemalt.

Solche «Pariser Themen» bleiben in der Fotografie noch über Jahrzehnte hinweg virulent bis hin zu Ilse Bing und Otto Steinert. Ebenso wie der Blick von oben hinunter auf das Strassengeschehen. Caillebotte malt eine flächig aufgefasste Verkehrsinsel (1880), die Anordnung korrespondiert mit Aufnahmen aus den zwanziger Jahren, als solche «Steilvorlagen» mit dem «Neuen Sehen» zum ästhetischen (und politischen) Programm geworden sind.

Kühn und geglückt ist diese Einstimmung auf das Werk des – lange Zeit zu Unrecht fast vergessenen – vielseitigen Malers. Der schon früh finanziell unabhängige Sohn eines begüterten Tuchhändlers schafft zum Beispiel eine eindringliche Darstellung von Arbeit, eine «Interieurszene» ganz eigener Art. Die wunderbaren «Parkettschleifer» (1875) zeigen den kräftezehrenden Arbeitsablauf ebenso in malerisch hochkomplexer Raumordnung wie als akribische Bewegungsstudie. Caillebotte ist indes kein Sozialreformer, er geht seinen vielseitigen kulturellen und sportlichen Interessen nach – vom Engagement als Kunstförderer und Sammler über eigene Bootsentwürfe bis hin zu Philatelie und Gartenbau.

Sein Selbstporträt (1889) hängt gegenüber dem Flaneur, klein wie ein Renaissancebildnis, so modern, als käme es aus einem Atelier des 20. Jahrhunderts: Zu sehen ist der Kopf eines Mannes mit raspelkurzem Haar, prüfendem Blick und hochgeschlagenem Mantelkragen vor hellem Hintergrund. Gustave Caillebotte, der unkonventionelle Citoyen, porträtiert dann auch Männer seines Umfelds (eine schöne Zusammenstellung im angrenzenden Raum) als nervöse Zeitgenossen, die sich in ihren übervollen grossbürgerlichen Wohnräumen auf ihren eigenen Sofas und Schreibtischstühlen wie auf Besuch zu fühlen scheinen.

Eine heller werdende Farbpalette und Freude an grosszügig aufgefassten, weiten Flächen zeigt die Zeit nach dem Umzug aufs Land, wo sich Caillebotte ein weitläufiges Anwesen mit Personal für seine Boote und den Garten leistet. Welche wichtige Rolle das Interesse an Bewegungsabläufen auch bei ländlichen Szenen, seien es Ruderer, seien es Spaziergänger, spielt, macht auch hier die Gegenüberstellung mit chronofotografischen Serien deutlich. Die Caillebottesche Bildwelt ist ihnen tatsächlich näher, als ein erster Blick auf die Gemälde erahnen lässt. Unter diesem Aspekt betrachtet bekommen indes auch disparate Bildsujets einen inneren Zusammenhang. Das gelingt fast immer, bis auf die (Tier-)Stillleben, da wäre wohl doch ein Vergleich mit anderen Bildern dieses Genres aufschlussreicher gewesen. Aber das nur am Rande, die grosse Linie dieser von Karin Sagner und Ulrich Pohlmann überaus kenntnisreich und feinsinnig kuratierten Ausstellung ist von schlüssiger intellektueller wie visueller Überzeugungskraft.

Gustave Caillebotte – ein Impressionist und die Fotografie. Die Ausstellung dauert bis zum 20. Januar 2013.
Der Katalog kostet € 29.80

zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung 10. Dezember 2012 S.33