Land ohne Eltern

Zurückgelassene Kinder

Ein Foto zeigt ein Glas mit eingeweckten Früchten auf einer großflächig gemusterten Decke, ein anderes zwei geöffnete Päckchen mit Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Bewegend ist die Aufnahme eines kleinen, dunkelhaarigen Mädchens in hübscher, aber etwas schmuddeliger rosa Kleidung vor einer oben weiß gehaltenen, unten in sattem Blau gestrichenen Wand. Sie hat die Schuhe abgestreift und ist auf einen Stuhl gestiegen, um den Hörer des Telefons zu erreichen, das auf einer Kühltruhe steht, und hört konzentriert auf die Stimme am anderen Ende der Leitung: Mama hat das Land verlassen, sie ist nach Italien gezogen und arbeitet dort als Altenpflegerin in einem Privathaushalt. Für drei Jahre bleibt das Kind mit den beiden Schwestern in der gemeinsamen Wohnung zurück. Die drei Mädchen, sie sind zwischen acht und zwölf Jahre alt, als die Mutter geht, wirtschaften alleine.

Dieses Schicksal ist in der postsowjetischen Moldau (Moldova), einem verarmten und vergessenen europäischen Land, kein Einzelfall. Wenn die Kinder Glück haben, gibt es Großeltern oder Verwandte und Freunde, die sich kümmern, eventuell werden sie, wenn der Status der meist illegal Ausgewanderten legalisiert ist, Jahre später zu den – inzwischen ein Stück weit fremd gewordenen – Eltern ins Ausland geholt. Kann es Fürsorge aus der Ferne geben? In Form von liebevoll zusammengestellten Paketen, Geschenken, Anrufen, Skype-Kommunikation? Es sind keine Rabeneltern, die ihre Kinder verlassen haben, um meist als Erntehelfer oder in der Altenpflege hart zu arbeiten und ihnen Geld und Pakete nach Hause zu schicken. Aber ein Zuhause in dem Sinn gibt es für die Kinder nur noch als Gehäuse dessen, was einmal war: Wohnräume, die sie zwar halbwegs in Ordnung zu halten wissen, die mit gerafften Vorhängen und Tischdecken, Bettüberwürfen und Fotos noch zeigen, dass da einmal jemand war, der Heim und Kinder behütet hat. Jetzt aber fehlt das höchste Gut der Kindheit, die Eltern. Sie kommen irgendwie zurecht, gehen zur Schule (die Klassenzimmer sind im Winter kalt, man sieht Aufnahmen mit dick eingepackten Schülern und der Lehrerin in Fellmütze). Sie stellen Schafskäse her, füttern die Hühner und decken den Tisch mit Porzellantellern, wie es wohl Oma und Mutter früher hielten. Sie warten sehnsüchtig auf den Bus, der die Pakete anliefert, und hin und wieder kommen auch Mutter oder Vater zu Besuch – wenn das denn möglich ist, da diese als Illegale aus Angst vor Verhaftung an der Grenze oft jahrelang die Einreise nicht riskieren wollen.

Andrea Diefenbach hat ein bewegendes Fotobuch zu diesem Thema vorgelegt. Im ersten Teil zeigt sie das Alltagsleben der Kinder, die ihren Aufgaben nachgehen oder vor einem Bildschirm sitzen. Ernst sind sie, fast abwesend, ihre selbstversunkene Ausstrahlung ist den Blicken eines Neugeborenen vor dem ersten Lächeln vergleichbar. Auf einer Aufnahme sieht man ein Baby mitten im leeren Elternbett vor einem floral gemusterten, braun-beigen Wandbehang liegen: Über sein weiteres Schicksal erfährt man, anders als bei den anderen Kindern, über die im Anhang kurz berichtet wird, nichts. Das Foto mit dem Baby im überdimensionierten Bett ist in diesem Kontext so beklemmend wie exemplarisch: Was hier passiert, ist für alle Kinder, aber auch für die Eltern selbst, etwas zu groß.

Im zweiten Teil des Buches werden die arbeitenden Mütter und Väter gezeigt. Auch ihnen sieht man an, dass etwas fehlt, sie das Liebste zurückgelassen haben. Hätte es wirklich keine andere Möglichkeit gegeben, haben Sie den Preis für sich und die Kinder unterschätzt? Sie arbeiten in Spanien, Griechenland, Italien, häufig in der privaten Altenpflege. Wo sind die Kinder dieser Alten – womöglich selbst im Ausland?

Diefenbachs Buch und die Texte von Nicola Abé, Grigore Vieru und Dumitru Crudu zeigen, wie eine verfahrene wirtschaftliche Situation und der Wunsch nach materiell besserem Leben elementare Menschenrechte außer Kraft setzen kann: das Recht auf das Zusammenleben von Eltern und Kindern.

Andrea Diefenbach: Land ohne Eltern. Kehrer Verlag. 2012, 124 S., 39.90 €

zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung 21.01.2013