Stillleben und Industrieanlagen: Fotografie und Kunst der Zwanziger Jahre
Sachlichkeit
und Verismus in der Malerei, Fotocollagen und Neues Sehen in der
Fotografie – nach der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs
und unter den schwierigen Umständen der Weimarer Republik richtet
sich der ernüchterte, ja gerne als kalt bezeichnete Blick von
Künstler*innen und Autor*innen auf Menschen und ihre Lebensumstände.
Das Treiben in den Großstädten, Sexualität, Emanzipation,
Gegenstände des täglichen Lebens, Großindustrie und Neues Bauen
sind die Themen der Zeit. Das Bucerius Forum in Hamburg setzt
Malerei, Grafik und Schwarz-Weiß Fotografie in einen inhaltlichen
wie ästhetischen Dialog. Das Kuratorenteam Kathrin Baumstark und
Ulrich Pohlmann ordnen nach traditionellen Genres wie Stillleben,
Porträt und Akt sowie dezidiert modernen Themen: Stadtdarstellungen
und Industrieanlagen sind an die Stelle der klassischen Gattungen von
Landschaft und Historie getreten. Besonders bei den Stillleben
steigern sich die Bilder gegenseitig auf geradezu betörende Weise,
„schön kuratiert“, kommentiert ein junger Mann aus der
Besucherschar das Seherlebnis. Die Ausstellung setzt ein mit einem
gemaltes Arrangement von rot blühenden Sukkulenten im Atelier von
Otto Schön, es hängt neben Karl Blossfeldts Makrofotografie von
skulptural erfassten Pflanzen, gefolgt von einem weiteren
Kakteenstillleben in Öl von Georg Scholz vor einem offen stehenden
Fenster. Kakteen als Zeichen der Weltaufgeschlossenheit stehen auch
am Fenster der Bauhaus-Fotografin Marianne Brandt. Pflanzenaufnahmen
von August Renger-Patzsch und Aenne Biermann flankieren das ruhige
Gemälde von Scholz – beider Werk begegnet uns in der Ausstellung
in unterschiedlichen Genres. An der Wand gegenüber empfängt ein
perspektivisch kühnes Arrangement mit elegant geformten Gläsern aus
der malerischen Arbeit von Hannah Höch, das mit Renger-Patzschs
bauchigen Gläsern auf die neue Freiheit des Sehens anzustoßen
scheint. Oder wir sehen Putzeimer und Besen auf einem großen Gemälde
von Hans Mertens neben einem kleinen Foto von Elfriede Reichelt, das
Renovierungsutensilien zeigt. Ein gemaserter Tisch mit akribisch
angeordneten Frühstücksutensilien von Bernhard Dörries irritiert,
was allerdings nicht nur, wie die Bildunterschrift nahelegt, darauf
zurückzuführen ist, dass er in altmeisterlicher Manier des 17.
Jahrhunderts malt, sondern auch darauf, dass hier anders als beim
klassischen Stillleben mit unterschiedlichen Gegenständen kein
optischer Kontrapunkt gesetzt wird, indem man eines der Objekte ein
wenig über die Tischkante herauskragen lässt. Bei fotografischen
Stillleben hingegen ragt keine Bildtradition störend ins Bild
hinein, man entfaltet das Sujet sogar ornamental über die Fläche:
Eine ganz eigene Poesie verleihen so Kamera und Komposition
gleichermaßen Reißzwecken wie Brillengläsern und Gasmasken bei
Willy Zielke. In der Gegenüberstellung überzeugen auch
Industrieaufnahmen von Renger-Patzsch und Emil Otto Hoppé mit
Malerei von Carl Grossberg und Max Radler – beide
Darstellungsformen greifen präzise ineinander. Auch hier, ähnlich
wie bei den Stillleben ist die Kombination von Farbigkeit und
größerem Format in der Malerei und kleiner formatiger
Schwarz-Weißfotografie keine dissonante Konfrontation, sondern
verstärkt eher das Sicheinlassen auf die Qualitäten des jeweiligen
Mediums. Besonders schön hier: Eine Aufnahme mit Eisenbahnschienen
von Aenne Biermann, auf der man geradezu das Rattern der Züge zu
hören vermeint. Bei den Porträts kommen ebenso wie beim Akt
unterschiedliche Bildauffassungen viel mehr zum Tragen: Gezeichnete
und fotografische Porträts der gleichen Person nebeneinander
gestellt schwächen sich gegenseitig in ihrer Ausdruckskraft. Anders
verhält es sich bei der Reihe von fotografischen Selbst-oder
Doppelporträts von den raffinierten Spiegelungen einer Florence
Henri bis hin zu Herbert Beyers surrealer Montage von Körper und
Torso: Sie zeigen eindrucksvoll neue, experimentierfreudige Spielzüge
der Fotografie. Sehr aufschlussreich auch die Stadtszenarien. Während
Aufnahmen von oben in die Straßenschluchten und insbesondere die
fotografischen Arbeiten von Umbo die Unheimlichkeit der Großstadt im
Spiel von Verschattung und Perspektive verfolgen, wirken gemalte
Stadtszenerien hingegen aus heutiger Perspektive eher nostalgisch.
Selbst der böse Blick eines Georg Scholz auf die Abgründe einer
Kleinstadt haben noch den Charakter eines, wenn auch ungemütlichen
Bilderbogens. Fast wie Hinterglasmalerei oder eine Szene aus einer
Laterna magica wirkt ein Münchner Platz bei Nacht von 1935, auch
wenn Veränderungen im Stadtbild durch die Präsenz von Soldaten am
Bildrand zu erkennen sind: Wilhelm Heise greift hier auf vom
Atelierfenster aus angefertigte Fotografien zurück.
Wenn nur die Bildunterschriften nicht wären, sie sind sowohl, was das
Verhältnis von Malerei zu Fotografie angeht, aber auch ganz
besonders das Geschlechterverhältnis vorsichtig ausgedrückt:
unbedarft. Um nur einige Beispiele zu nennen: Da ist bei den
Putzutensilien davon die Rede, dass neue Bildgegenstände in der
sachlichen Malerei der Zwanziger Jahre bildwürdig werden – als
hätte nicht bereits das erste Fotobuch „The Pencil of Nature“
von William Henri Fox Talbot rund ein dreiviertel Jahrhundert zuvor
darauf aufmerksam gemacht, dass die Kamera neue Gegenstände in den
Blick rückt und als hätte es keine Impressionisten gegeben. Oder
Hannah Höch, die doch immerhin für sich in Anspruch nehmen kann,
der dadaistischen Fotocollage zum Durchbruch verholfen und sie
wahrscheinlich auch begründet zu haben – zu ihrem
Gläser-Stillleben heißt es, sie greife auf das Neue Sehen zurück,
in einem der Fotocollage gewidmeten Raum, in der eine Arbeit von ihr
gezeigt wird, ist von ihrem Status für das Genre keine Rede. Dafür
erfahren wir, ganz im althergebrachten Stil von einer anderen
Malerin, wessen Schülerin sie war und wie genau sich das auf dem
Bild niederschlägt oder so gewichtige „Informationen“ wie dass
die Schwester einer Porträtierten mit Walter Gropius verheiratet
war. Das ist ärgerlich, gerade weil Auswahl und Hängung der Bilder
für das Zusammenspiel wie die Eigengesetzlichkeit von Malerei und
Fotografie überaus erhellend und gelungen sind. Die Hamburger
Ausstellung wird 2020 auch im Stadtmuseum München gezeigt werden,
die Kunsthalle Karlsruhe eröffnet ab März eine aus dem Germanischen
Nationalmuseum in Nürnberg übernommene Ausstellung „Licht und
Leinwand“ zum Verhältnis von Fotografie und Malerei für das 19.
Jahrhundert.
„Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre“ Buceriusforum bis 19. Mai 2019, Katalog 29 Euro
zuerst veröffentlicht in Photonews Nr. 4/19