Wo endet die Stadt, und wo genau beginnt die Peripherie? Inzwischen tragen nicht mehr zum historischen Zentrum zählende oder zu bürgerlichen Quartieren mit älterer Bausubstanz gehörende Wohnbezirke viele Namen: Im deutschen Sprachraum ist die Rede vom Stadtrand, von Agglomeration, Siedlung, Zwischenstadt oder Vorort. Häufig sind diese Vorstädte oder in der Stadt sich ausbreitenden Bereiche, die beiläufig bewohnt werden – selbst wenn man eine lange Zeitspanne seines Lebens dort verbringen sollte – , mit dem Vorzeichen des Austauschbaren und Banalen versehen. Schon nach einiger Zeit kann ihnen der Ruch des sozialen Abstiegs, oder gar der Ruf des sozialen Brennpunkts anhaften. Solche Gegenden sind indes durchaus ein Thema für Fotografen, ja sie werden gerade hier nicht nur als Zeitzeugen, sondern als visuelle Spezialisten für übersehene und schnell verbrauchte Stadtlandschaften benötigt. Bilder von einer durch und durch gewöhnlichen Umgebung zu schaffen ist keine leichte Aufgabe. Und so entsenden Lehrende die Studierenden ihrer Fotoklassen auch heute immer wieder einmal hinaus in die Peripherie ihres jeweiligen Hochschulstandortes oder ihrer Heimatstadt – so wie bereits die Bechers und vor ihnen schon Otto Steinert ihre Fotoschüler ins Ruhrgebiet schickten.
Ausgangspunkt Ruhrgebiet: Bilder des Übergangs
Das archivarische und zugleich auch ästhetische Interesse für die schnell verschwindenden, architektonischen Relikte der untergehenden Industriekultur (die indes in den letzten Jahrzehnten vermehrt Pflege und vor allem Wertschätzung erfuhren) schulte auch das Auge für das zerfaserte, suburbane Umfeld der Region. Speziell das Ruhrgebiet eignete sich in Deutschland für solcher Art Erkundungen, da hier eins ins andere nahtlos übergeht: Industrielandschaft in Stadt, Stadt in ländlichere Gebiete. Auch wenn es kleine, mittelalterlich geprägte Stadtkerne in Essen, Duisburg, Bochum und Müllheim gab (sogenannte Hellwegstädte), wuchsen Ende des 19. Jahrhunderts die Städte „um die Fabrikanlagen und Zechen herum, so dass keine Urbanität entstehen konnte – aber auch keine Slums“, so beschreibt Ende des vorigen Jahrhunderts Rainer Wirtz die Situation.[1]
Wird eine Gegend als Transitstation betrachtet, um möglichst rasch ins eigentliche Zentrum vorzudringen, haben wir es mit einer klassischen Situation von Peripherie zu tun. Dies betrifft nicht nur Randlagen, auch Städte können, wie dies aufgrund von Verkehrsplanungen in den 50-er Jahren mit Essen und Bochum geschehen ist, in eine solch missliche Lage geraten.
Die verschlungenen Wege der Verkehrsführung und die durch sie entstandene Peripherisierung von städtischen oder ländlichen Lebensräumen hat Daniel Stemmrich fotografisch begleitet und kommentiert: „Stadt und Straße. Fotochronik eines andauernden Konfliktes, 1977 bis heute“, der interaktive Bild-Textband entstand 2015 [2] Das hier verfolgte, umstrittene Schnellstraßen- und Autobahnprojekt quer durch das Ruhrgebiet, von dem zunächst nur die Ausläufer zu bemerken sind, beginnt Ende der Siebziger Jahre vorab seinen Schatten zu werfen. Daniel Stemmrich hält fest, was nur allmählich und nie vollständig, da immer wieder einmal anders realisiert als in verschiedenen Planungsstadien konzipiert, für den Betrachter ersichtlich wird: Die Region wurde dafür bestimmt, für die Belange einer überregionalen Verkehrsplanung verbraucht zu werden. Stemmrichs Schwarz-Weiß Aufnahmen entstanden zunächst eher beiläufig auf Spaziergängen, ehe sie sich zu einer langfristigen Aufgabe verdichteten. Sie zeigen, was unter abstrakten Planungen, wie sie auf Karten mit projektierten Straßenführungen visualisiert werden, verschwindet: Trassierungen und Schiebearbeiten fegen angrenzende Häuser und Gärten an den Rand. Der Fokus der Aufnahmen richtet sich auf großräumige Erdarbeiten, Rampen und wie in den Boden gerammte Brücken, die dem gewaltigen Eingriff vorausgehen. Auch auf gezieltes Verwildernlassen von bisher als Gemüse- und Obstgärten oder für kleines Gewerbe genutztem Gebiet, das einmal Autobahnerwartungsland werden könnte, wird Stemmrich während seiner langjährigen Kamerastreifzüge aufmerksam. Fotografische Beobachtung und chronologische Archivierung wird hier zum Instrument einer – aus kleinen Puzzleteilchen Stück für Stück erarbeiteten – visuell gewonnenen Erkenntnis. Das Studium der Planungsunterlagen und des Kompetenzenwirrwars der Verkehrsplanung allein würde nicht ausreichen, um die Veränderungen in ihrer ganzen Tragweite zu durchschauen.
Und so, gibt Daniel Stemmrich zu bedenken, wie es schwierig ist, sich auszumalen, dass ein bestehender landschaftlicher Raum durch aktiven Eingriff von Grund auf verändert und umgebaut wird, so ist es auch schwierig sich das Ganze umgekehrt vorzustellen, nämlich wie eine Gegend ausgesehen haben mag, bevor die Umgestaltung einsetzte. Denn auch diejenigen, für die bestehende Ansichten von Verkehrs-Landschaften zum Alltag gehören, können sich kaum Alternativen zum Bestehenden mehr denken. Dazu bedarf es – ähnlich wie beim Rückbau von regulierten Flüssen – der Bilder, Erzählungen, sprechenden Flurbezeichnungen oder persönlichen Erinnerungen an ältere Zustände von Städten und Landschaften. Und besonders Fotografen, zumal wenn sie mit ihrem Werk einen langen Zeitraum überblicken, können mit ihren Aufnahmen die Macht des Faktischen „perforieren“ und unterlaufen.
Kippsituationen
Mit forschendem Blick für die besonderen geometrischen Strukturen, die sich aus dem Verhältnis von Freifläche und Bebauung, von temporärer Nutzung und gerade vorhandenem Baustellenzubehör ergeben, setzt der französische Fotograf Jean Claude Mouton voll Hingabe innerstädtische „zones blanches“ ins Bild, also Gebiete wie Gewerbeflächen und vom Verkehr umtoste Grünstreifen, die auf touristischen Karten oder Stadtplänen nicht weiter ausgewiesen werden. In Nanterre, auf einem bis heute städtebaulich vernachlässigten Gelände, das eine wechselvolle Geschichte durchlief, in Dunkerque und mitten in Berlin zu Zeiten des städtischen Umbaus nach der Wende (für dieses Jahr ist im Berliner Disadorno Verlag eine Publikation mit Moutons Fotografien zu Paris, Berlin, Nanterre und Dunkerque geplant) findet Mouton eine Welt vor, die uns zurückspiegelt, was wir uns und andern nebenbei hinterlassen. Sie entbehrt nicht der Faszination, da sie wild entstanden ist, planlos wuchert und sich in ständiger Veränderung befindet.
Dunkerque, wo Mouton seit 2012 ausgiebig fotografiert, ist geschichtlich besonders belastetes Terrain, die Stadt war im zweiten Weltkrieg Zufluchtsort für ein britisches Expeditionskorps und eine französische Armeeeinheit: 1940 wichen die Soldaten vor den Angriffen der NS-Armee zurück und konnten auf dem Seeweg evakuiert werden. Diese historische Situation ist Mouton präsent, seine Arbeiten sind, hier wie in anderen Werkkomplexen, im Bewusstsein der jeweiligen Geschichte eines Ortes entstanden.
Viele seiner Bilder aus Dunkerque sind auf dem Gelände einer schon lange stillgelegten Schiffsfabrik aufgenommen, das erst allmählich wieder neu genutzt und bespielt wird. Bewegung und Gegenbewegung, der Verlauf von Linien und Flächen und die mit ihnen ausgeschnittenen Formen bei unverhofften Durchblicken oder Lücken schaffen auf Moutons Aufnahmen eine Bildordnung, die fein austariert, mitunter gezielt ins Wanken gerät. So bekommt das Durcheinander herumliegender Gegenstände oder abgeknickter Verkehrsschilder, lädierter Straßenrandbefestigungen und gelagerter Schiffe, im Rhythmus von ruhiger Fläche und einbrechenden Formen, die manchmal wie optische Querschläger einfallen, eine ganz eigene Spannung. Eine Aufnahme zeigt Erdarbeiten in einer visuell sehr komplexen Situation: Steine uDnd Geröll, Spiegelungen im Grundwasser, auf der Seite befinden sich Neubauten, mit angewinkeltem Schaufelarm rahmt ein ruhender Bagger wie auf einer Vedute den Durch-Blick auf weitere Bauten im Hintergrund. Eine Art Kippsituation zwischen aktuellem Zustand und der in ihm enthaltenen Möglichkeiten entsteht, wir sehen uns in eine Art Erwartungszustand versetzt.
Eher retrospektiv mutet ein Fotoprojekt von Daniel Müller Jansen an, eine Serie bestehend aus 14 Arbeiten, entstanden 2009/2010 in Deutschland: „Diffuse Vertrautheit“ lautet der programmatische Titel. Es geht um Bekanntes, das aber doch so einnehmend vor Augen geführt wird, dass man nicht gleich beiseite sieht, da es so etwas wie einen Widerhaken in uns senkt: Wir meinen zu kennen, was wir sehen, aber so genau eben doch wieder nicht, zumal wenn wir nicht selbst aus dem Ruhrgebiet stammen.
Auf Müller Jansens Aufnahmen betrachten wir Mehrfamilen-Wohnhäuser, zum Teil mit verschneiten Dächern. Einige ältere stehen frei, als seien sie die letzten ihrer Art, andere im Straßenverbund vor grüner Fläche, mal handelt es sich um verwildertes Gestrüpp, mal um eine umfriedete Anlage. Dahinter oder gleich nebenan erstreckt sich eine museal wirkende Industrielandschaft als eindrucksvolle Kulisse, sie erscheint fast wie ein Gebirge aus Gasbehältern, Fördertürmen und hohen Schloten.
Ganz anders nähert sich Joachim Schumacher, der seit vierzig Jahren im Ruhrgebiet fotografiert, in seinem Bildband „Von dieser Welt“ (Kettler Verlag 2014) der Materie. Hier sehen wir die Überschreibung von ehemaligem Industriegebiet durch Landschaftsrekonstruktion. Die nach Plan geformten Oberflächen erscheinen ein wenig wie plastische Chirurgie, die sich einerseits bemüht, organische Formen nachzubilden, andererseits zur Übertreibung neigt: Einförmig begrünte Deponien und wie mit dem Lineal geschichtete Haldenlandschaften, von einsamen Kunstwerken nobilitiert, ragen hoffnungsvoll in die Höhe, Bänke stellen den Wunsch nach Verweilen in Aussicht.
Andere Bildfolgen zeigen Stadtansichten, die sich aus Hinterhofsituationen oder ineinander greifenden „Randlagen“ zusammensetzen, randständig erscheinen sie, auch wenn sie mitten im Ballungsraum liegen. Und obwohl viele Häuser aus Stein und Backstein errichtet wurden, ältere Bauten noch mit Fassadenschmuck prunken: Auf Schumachers Bildern greifen natürliches Astwerk und rostende Leitungen, verbliebene Industriekamine und ein Hinterhofminarett organisch ineinander. Satellitenschüsseln bilden neben Gartenstühlen und Campingtisch, Wäscheleinen und selbst hochgezogenen Mauern aus einfachem Baumaterial, das gerade zur Hand war, in abgerissen wirkenden Enklaven ein eigenes Potpourri jenseits geplanter Architektur. Es ist, als schauten wir in eine nach außen verlagerte Abstellkammer, in der auch billige Werbetafeln, Plakate und Ladenschilder aufbewahrt werden. Man kann hier wohnen, ohne viel Aufhebens darum zu machen.
Französische Zustände, österreichische Häuselbauer
Manchmal juckt aber das Aufhebens machen doch gewaltig in den Fingern: So im allerbesten Sinne bei Gerhard Vormwald, der in einer ganz anderen Region, dem ländlichen Frankreich, seine Aufnahmen von Scheuern und in die Jahre gekommenen Häusern mit leichter Hand digital nachbearbeitet und mit einem Füllhorn tradierter architektonischer Formen aufbessert. In einer Bildfolge aus dem Jahr 2014 (es gibt aber auch schon früher entstandene Arbeiten zu diesem Themenkomplex) sehen wir gotische Kirchenfenster mit Maßwerk, so raffiniert in eine Front aus Naturbruchsteinen eingelassen, dass wir es fast glauben. Wir treffen auf rosafarbene Balustraden oder Verkehrsschilder dekorativ unter einem schrägabfallenden Dach in ein verschlagartiges Häuschen mit Satelittenschüssel eingelagert. Aber auch aus der Mode gekommene Glasbausteine wie sie gerne für Badezimmer oder Hausflure verwendet wurden, oder industriell hergestellte, vorgeblendete Kacheln an der Fassade, etwas akkurat verteilter Blumenschmuck und Fähnchen finden sich – alles ist möglich, alles gibt sich auf den ersten Blick plausibel. Die Spannung entsteht hier im Feld von Erinnerung und digital unterstütztem Eingriff. Halb verfallene Schuppen und einfache Häuschen mit renovierungsbedürftigen Dächern, Fenstern, abbröckelndem Putz samt notdürftig durchgeführter Reparaturmaßnahmen mit billigem Zubehör aus dem Baumarkt prägen das Bild des ländlichen Frankreichs. Besonders in strukturschwachen Regionen, nicht für den Tourismus zurecht gemachten Gebieten, trifft man auf solch einsam ihr Dasein fristende Bauwerke von doch eher tristem Charme. Das ländlich geprägte Frankreich beansprucht aber auch mit seinen Kirchen und Plätzen, seinen kleinen, von ihren Inhabern noch persönlich geführten Läden, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, einen Platz in unserer Erinnerung. Und auf Gerhard Vormwalds Bildern, der schon jahrzehntelang in Frankreich lebt, findet beides zueinander. Seine Bildfindungen erweisen sich als karnavalesker und vor allem auch visuell ansteckender Akt, man betrachtet seine Umgebung anders, und wird in Gedanken selbst zum kleinen Baumeister, hat man sich erst einmal intensiv auf seinen Bilderkosmos eingelassen.
„Vom Siedeln und Hausen“ lautet der Titel eines Werkkomplexes der österreichischen Fotografin Margherita Spiluttini. Selfmade-Bauherren versuchten mit ihren unredigierten und offensichtlich ungestört verwirklichten Entwürfen ihren Vorstellungen vom behaglichen und indivduellen Wohnen in Österreich nachzukommen. Man ist dabei alles andere als zimperlich und greift ohne zu zögern ins Nähkörbchen zuhandener architektonischer Formen. Angemessene Größenverhältnisse oder gar ein Zusammenspiel der einzelnen Elemente untereinander, Proportionen? Da lässt man gerne fünf gerade sein. Und so wird zugegriffen und ans Tageslicht befördert, was man irgendwo schon einmal gesehen hat und wovon man sich beeindrucken ließ. Wie auffällig gemusterte Flicken in der Höhe des durchgewetzten Ellenbogens, auf einem frisch gereinigten Jackett prangen solche Formen auf ihren Bauträgern. Die Schwarz-Weißkontraste der Aufnahmen, der distanzierte Abstand und die bevorzugte Gesamtansicht tun das ihrige, um gleichwohl für Sterilität zu sorgen. Fern jeder häuslichen Gastlichkeit erscheinen deshalb solche architektonischen Alleingänge. Immerhin sieht man nicht nur Zweitwagen, sondern auch ab und zu Menschen, einen Kinderwagen, eine Katze, es ist also alles ernst gemeint und man lebt hier.
Topophilie
Joachim Hildebrand hingegen entdeckt eine nachträgliche Schönheit in der Architektur von Siedlungen, wie sie die „Neue Heimat“ in den Fünfziger Jahren in Deutschland hochzog: Schmucklose Bauten, die sich dennoch hin und wieder einen Anflug von Eleganz leisten, so in geschwungenen Balkonen mit Bespannung, die ein wenig an die durchgestylte Karosserie italienischer Kinderwägen oder die Innenausstattung von Eisdielen der Nachkriegszeit erinnern.
Die für solche Siedlungen obligatorischen eisernen Spielgerüste und Teppichstangen stehen inzwischen unbenutzt vor den Häusern, allenfalls werden noch Wäscheleinen daran befestigt, aber die Bäume, die man damals jung einpflanzt hat, sind beträchtlich gewachsen. Ihr verschlungener Schattenwurf auf den kargen Fassaden, die zwischenzeitlich durch Farbe aufgefrischt worden sind – und auch das Sonnenlicht tut das Seinige hinzu, um Wärme auf die Fassaden zu zaubern –, in Verbindung mit der strengen, hier aber tatsächlich wohltuend klar erscheinenden Architektur der Nüchternheit lässt Spielraum für Fantasie. Ist das der Blick im nachhinein? Oder der wieder gewonnene Wunsch nach Überschaubarkeit und doch in irgendeiner Form geordneten Verhältnissen? Joachim Hildebrand stellt seine Arbeiten in einem Ausstellungskatalog vor, der sich dem Thema „Heimat? Osteuropa in der zeitgenössischen Fotografie“ (Kerberverlag 2014) widmet. Die damals gewerkschaftseigene Wohnbaugesellschaft „Neue Heimat“ bot mit ihren bezahlbaren Wohnungen vielen Flüchtlingen eine neue Heimat, dies bildet die Verbindung zu Osteuropa. Je nach Generation, der die Fotografen angehören, fasziniert Unterschiedliches,
hält das irritierende Gefühl „diffuser Vertrautheit“ auf andere Weise Einzug. Es kann mehr zum Heimeligen, mehr zum Vorbehalt, mehr zum Skurrilen tendieren oder mehr zur Verwunderung hin abschattiert sein, aber auch schlicht nur Abwehr auslösen. Das mag damit zu tun haben, dass Peripherie und Zwischengebiete zum alltäglichen Lebensumfeld gehören, auch wenn wir sie selten systematisch erkunden, sondern nur benützen: Wir alle kennen moderne Nachkriegs-Straßenzüge, stereotype Wohnanlagen, Stadtautobahnen, städtische Brachen und Filialen von Geschäftsketten, denen wir kein eigenes Gesicht zuschreiben würden. Wir betrachten sie als unvermeidlich zu unserem Lebensumfeld gehörig, gleichzeitig aber sind sie unauffällig, praktisch und – unabhängig von ihrer Größe oder räumlichen Ausdehnung – unscheinbar. Dazu aufgefordert, würden wir sie achselzuckend mit „nichts Besonderes“ beschreiben, oft ohne genauere Angaben zu ihrer tatsächlichen Bauweise machen zu können, so wenig schauen wir hin, so selbstverständlich sind sie für uns geworden. Wirklich auf der Höhe der Zeit fühlen wir uns hier nicht, aber einer gar zu radikalen architektonischen „Umformung“ würden wir, rein aus Beharrungsvermögen oder aus Sorge um mögliche Gentrifizierung der Nachbarschaft, eher skeptisch-abwartend gegenüberstehen als sie von vornherein freudig zu begrüßen.
Wir hängen, nur weil es schon einmal da ist, auch am Gewöhnlichen, selbst wenn uns das nicht bewusst ist. Nicht selten erklärt sich ein bestimmter, liebevoller Blick auf gänzlich Unspektakuläres aus frühen Prägungen, die bis in die Kindheit zurückreichen. Alastair Bonnett, der in Newcastle „Social Geography“ lehrt, geht sogar soweit, diesen Hang zum Bestehenden als eine menschliche Grund-Eigenschaft zu benennen: als „Topophilie“, also die Liebe zum Ort. Bonnett sieht in ihr eine Entsprechung zur „Biophilie“, der Liebe des Menschen zu lebendigen Dingen. In Streitschriften wie Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“ (Suhrkamp 1965) oderr Niklas Maaks „Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen“ (Hanserverlag 2015) wird vehement kritisiert, dass rücksichtslose Stadtplanung und gesichtslose Architektur unsere Liebe zum Ort mit Füßen treten.
Weltweit: Große Gesten, die in sich selbst zusammenfallen
Einige Fotografen versuchen systematisch in ihren Arbeiten zu erfassen, was rein am Gewinn orientierte kapitalistische Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren angerichtet hat. So zeigt Robert Harding Pittman, ein deutsch-amerikanischer Fotograf, in seinem Band „Anonymization“ (Kehrerverlag 2012) liegengelassene oder leerstehende Neubauten in Europa, den USA und den Golfstaaten. Zum Objekte von Spekulanten- und Investoreninteressen geworden, verharren sie in einem unbestimmten Wartezustand der Irrealität. Aber auch die sterile Leere einer fernab von den Bedürfnissen der Menschen am Computer konzipierten Architektur, so eine Siedlung in Dubai, wirkt weit entfernt von dem, was wir in Europa als Urbanität bezeichnen würden oder unter dörflichem Leben verstehen. Landschaft wird rücksichtslos verbraucht für eine Infrastruktur der großen, globalisierten Gesten, die bei einer Änderung oder Fehleinschätzung der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage in sich zusammenfallen. Pittman zeigt uns Parkplätze und Golfanlagen, deren Wasserverbrauch immens ist. Sie werden in trockenen Landstrichen angelegt, in denen die Menschen das Wasser dringend für sich selbst und den Anbau von Nahrung benötigen. Wir sehen auf seinen Bildern kleine, wie mit der Schere zugeschnitten Reste, die bei Planungen übrig bleiben: so eine weiß umrandete, kiesbestreute „Insel“ mit einem Masten, der aus einer betonierten Parkfläche herausragt oder mit dem Lineal gezogene Straßenabgrenzungen inmitten sandiger Flächen in Los Angeles, die zu einer „master-planed commuity“ führen. Fußgänger sind hier nicht vorgesehen, die Distanzen sind weit.
Peripherie ist vielgestaltig, und der Prozess der Peripherisierung selbst zeigt unterschiedliche Gesichter. Oft ist Peripherie Produkt achtloser Planung, manchmal indes begegnen wir innerstädtisch wachsender Peripherie selbst in einem Zustand der Schwebe, in welchem Altes in Neues übergehen kann, ein Zwischenreich noch unausgeschöpfter Möglichkeiten fern des Zwanges zur ästhetischen Optimierung.
[1] Rainer Wirtz: Industrielandschaft und Empfindlichkeit. In: „Schön ist es auch anderswo. Fotografien vom Ruhrgebiet 1989-1999. Umschau/Brausverlag 1999, S. 7-11, hier S. 8
zuerst erschienen in: EIKON #93 2016 S.45-57 (International Magazine for Photography and Media Art)