Bereits in den ersten Jahren seines Bestehens stellte das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) Fotografien aus. Mit dem 1940 eröffneten „Department of photography“ schrieb es mit wegweisenden Ausstellungen Fotogeschichte. In einem neuen Bildband widmet sich das Museum nun der großen Bandbreite zeitgenössischer Fotografie – nicht chronologisch, sondern nach Sektionen geordnet.
Die Geschichte der zeitgenössischen Fotografie anhand der großen Themen- und Einzel-Ausstellungen im New Yorker MoMA zu schreiben, ist ein Unterfangen, bei dem es auch darum geht, beherzt Schneisen durch die kaum mehr zu übersehende Vielfalt des Bildmaterials zu legen: Sieben unterschiedliche Kapitel werden in der im Schirmer/Mosel Verlag erschienenen Publikation dazu aufgeschlagen.Vom Dokument und seiner Revision, von der Dekonstruktion der Fotografie, aber auch ihrem Verhältnis zu Massenmedien, von experimentellen Gestaltungen, erzählerischen Konstrukten und nicht zuletzt vom Archiv ist in den einzelnen Essays und der beeindruckenden Bildauswahl die Rede. Oder wie es der erste Direktor des 1929 gegründeten MoMA, Alfred Barr, schon für die Rezeption der ständigen Sammlung, zu der er ausdrücklich auch Fotografie rechnete, formulierte: Sie gleiche „einem Torpedo, der durch die Zeit rast, seine Spitze ist die immer weiter voranschreitende Gegenwart, sein Heck die immer weiter entschwindende Vergangenheit“.
Sammlung von mehr als 30.000 Fotografien
Kann man das auch für die – verglichen mit den anderen Künsten – immer noch junge Fotografie sagen? Und wo endet die Vergangenheit, ab wann beginnt das Zeitgenössische? Den Kapiteln des Buches ist das nur indirekt zu entnehmen – wohl mit Ende der Kunstfotografie und ihren virtuosen Drucktechniken und dem Übergang zur „Straight photography“, die sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auf die genuinen Eigenschaften des Mediums beruft: Sie setzt Realitätsnähe, Grauwerte und fotografische Wahrhaftigkeit an erste Stelle.
Das New Yorker MoMA umfasst eine Sammlung von mehr als 30.000 Fotografien sowie eine rund 8.000 Fotos erschließende Datenbank für die Zeit von 1960 bis1 980. Kritik an der besonderen Ausrichtung der Sammlung auf amerikanische Fotografen wurde immer wieder geäußert. Im vorliegenden Band wird präventiv argumentiert: Die Hälfte der 100 Einzelausstellungen im MoMA seien nicht amerikanischen Fotografen gewidmet, der Schwerpunkt auf Aufnahmen von US-amerikanischen Fotografen bei der Bildauswahl dieses Bandes hingegen sei schlicht der Datenbank geschuldet, die zu 75 Prozent einheimische Fotografen aufliste.
Komplexe Arbeiten
Der Band besticht durch seine Bildauswahl, vor allem im Bereich der Konzept- und Performancefotografie oder der experimentellen Gestaltung. Gerne hätte man gerade hier etwas ausführlichere Aufsätze gelesen, da die Werke nicht ganz ohne die Darlegung ihres Kontextes funktionieren, zumal in der Verkleinerung der Abbildung. So eine Arbeit von Robert Heinecken, die zum Glück ausführlich geschildert wird, von 1978: „On Photography“. Man sieht zwei Porträtfotos der Essayistin Susan Sontag, die für den Umschlag ihres gleichnamigen Buches von einem anderen Fotografen angefertigt worden waren – einmal aus Polaroid-Aufnahmen vonseiten ihres Buches collagiert, einmal aus Zufallsfotos aus dem Atelier. Heinecken kritisiert in einem begleitenden, wie es heißt „gallebitteren“ Text ihre Thesen, die der Fotografie eher ablehnend begegneten.
Komplexere Arbeiten wie diese gehören durchaus noch in den Sammlungsbereich „Fotografie“ oder wie David Campany zu bedenken gibt: „Wenn irgendein Medium die vereinheitlichende Geschichte der Kunst verkompliziert, dann die Fotografie, die sich bis in die äußersten Winkel der Kultur ausgebreitet und diese grundlegend umgestaltet hat.“
„Großartige Bilder zu machen, reicht allein nicht aus“
Die Arbeit von Fotografen hat, oft auch in Kombination mit Texten, immer wieder frühzeitig die Augen für zeitgenössische Probleme geöffnet: Dazu gehören nicht erst die Bechers mit ihrem Jahrhundertwerk der Industriefotografie, das eng auch mit ihren amerikanischen Kontakten verknüpft ist. So zu Stephen Shore oder Dan Graham, dessen „Homes for America“ aus dem Jahr 1966 Wohnungen in Fertigbauweise, Massenkultur und serielle Strukturen des Minimalismus als zusammengehörig identifiziert. Wegweisend sind auch Allan Sekulas Arbeit zur industrialisierten Fischerei in den 90er-Jahren und ganz besonders Robert Frank. Mit seinem in seiner Zeit ungewöhnlichen Fotobuch „Die Amerikaner“, das aus der Sicht des Europäers die rauen, traurigen und skurrilen Seiten eines völlig unglamourösen Amerikas zeigt, begleitet von einem empathischen Text des Underground Literaten Jack Kerouac erlangt das Fotobuch einen bis dato ungekannten Stellenwert. Mehr und mehr ersetzt es Publikation in Zeitschriften wie „Harper’s Bazaar“ oder „Vogue“, deren politische Ausrichtung oft konträr zu der Haltung der für sie arbeitenden Fotografen war: „Großartige Bilder zu machen, reicht allein nicht aus – man musste auch die Beziehunge
„Großartige Bilder zu machen, reicht allein nicht aus“n zwischen ihnen sorgsam pflegen“, beschreibt Campany die neue Sichtweise.
Von der Kleinbildkamers zum Großformat
Aber selbst großartig müssen Fotografien bald nicht mehr sein, wie der Erfolg von Ed Ruschas Leporello „Every building on the Sunset Strip“ bezeugt: Ed Ruscha huldigt, wie Benjamin H.D. Buchloh es nennt, einer „Ästhetik der Gleichgültigkeit“. Er hat die Gebäude mit einer automatischen Kleinbildkamera aufgenommen, die am vorüberfahrenden Auto befestigt war. Folgerichtig kommen in späteren Jahrzehnten explizit Großformatkameras ins Spiel: Hier schätzt man jetzt wieder ihre Langsamkeit, die langen Belichtungszeiten und die Standsicherheit, all das, was genauer Vorbereitung und exakter Überlegung bedarf.
Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie. 1960-heute.
MoMA Schirmer/Mosel 2015, 368 Seiten, 642 Abbildungen, 78 Euro.
zuerst erschienen beim Deutschlandfunk am 19.05.2016 in der Sendung „Büchermarkt“