Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor

Anders als der Titel nahelegt, geht es in Michael Frieds Buch weniger darum, weshalb Fotografie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, als um die Positionierung des bedeutenden amerikanischen Kunsthistorikers als (um es vorwegzunehmen: nicht ganz so bedeutenden) Fotografietheoretikers. Das umfangreiche Buch verliert sich alsbald in einem immer unübersichtlicher werdenden Mantra von wiederholten Titelnennungen und Querverweisen auf einen frühen und wegweisenden Essay Frieds zum Minimalimus in der Kunst ( Kunst und Objekthaftigkeit, 1967) und andere, eigene Schriften. Zumindest einem europäisch erzogenen Ohr wird bei soviel Selbstlob schon nach den ersten Seiten unbehaglich und auch das Ende des Buches, wo Fried darlegt, alle vorgestellten fotografischen Werke bestätigten Positionen seines Minimalimus-Essays stimmt da nicht glücklicher. So wünscht man sich einen erheblich verschlankten, lesefreundlicheren Umfang, zumindest für die, ansonsten sehr schön aufgemachte, deutsche Ausgabe. Man kann das Buch also auf zweierlei Arten lesen: auf die – durch den Wildwuchs an Wiederholungen und Selbstzitaten nicht ganz leicht aufzuspürenden – Kern-Aussagen zur Fotografie hin und als Hinweis auf die Rezeption von Positionen europäischer Philosophie, Literatur, Fotografie- und Gesellschaftstheorie, die Fried aus amerikanischer Warte heranzieht, um die Entwicklung der künstlerischen Fotografie seit dem zweiten Weltkrieg in den Blick zu nehmen.

„Die Leute denken, dass sie sich auf eine bestimmte Art darstellen, aber nolens volens zeigen sie dabei auch etwas anderes. Es ist unmöglich, wirklich alles unter Kontrolle zu haben“, beschreibt Rineke Dijkstra das Werkstattgeheimnis ihrer Portraits von Unbekannten, die sie bittet, eine Weilchen vor der Kamera auszuharren. Ob der Blick frontal auf den Betrachter gerichtet ist oder der Porträtierte scheinbar oder tatsächlich keine Notiz von der Aufnahmesituation nimmt, ob er der Kamera zeigt, was er glaubt, zu zeigen oder doch etwas anderes aufscheint – es ist unmöglich, eine Aufnahme zu machen, die selbst, wenn die Kamera verborgen bleibt, nicht in die Situation eingreift. In dem Moment, wo der Auslöser gedrückt ist, ist der Moment der Vergangenheit nicht mehr sich selbst überlassen, sondern in fotografischer Perspektive dokumentiert. Das ist Reiz und Fluch der Fotografie. Allerdings nicht nur der Fotografie, die Frage, wie das Hinzutreten eines Beobachters oder ein Wissen die Situation verändert, ist Gegenstand des Nachdenkens in Literatur, Philosophie, moderner Physik, Ethnologie und Systemtheorien seit dem 19. Jahrhundert. Fried beschränkt sich indes, ohne diese übergreifenden Wissens-Kontexte auch nur anzudeuten, auf ausgewählte Stellen aus Literatur und Philosophie. Diderots Überlegungen zu Drama und Malerei werden verstärkt zu Rate gezogen, als Tigersprung in die Gegenwart erscheint die ausführliche Vorstellung eines Romans von Yukio Mishima. Hegel (um „ontologische Orginalität“ auf den Fotografien der Bechers auszuloten), Heidegger (um Jeff Walls Inszenierungen, die gerne das Saubermachen und Werkeln zum Gegenstand haben, gemeinsam mit der Heideggerschen „Sorge“ zu lesen), ein wenig Wittgenstein säumen als zeitlose Fixsterne mit ausführlichen Zitaten den theoretischen Horizont. Roland Barthes‘ “punctum“ wird noch einmal vorgestellt (nicht ohne ihm vorzuwerfen, ihm entginge Prousts Logik), Susan Sontag (sie allerdings, so Fried, argumentiere nicht zielgerichtet). Sie alle sollen die Bedeutung von Frieds Trias für Malerei und Fotografie bezeugen: der „Theatralität“ (für ein Publikum agieren), „Antitheatralität“ (in scheinbarer Selbstversunkenheit agieren) und schließlich von „Visibilität“ (angesichts des Wissens um die Sichtbarkeit der Bedingungen des Beobachtens und Beobachtetwerdens in Selbstversunkenheit verfallen und so explizit die Aufmerksamkeit des Bildbetrachters beanspruchen). Ausdrückliches Anerkennen von „Visibilität“ also, so Frieds leitende Erkenntis, beinhaltet das Moment, welches das Besondere der künstlerischen Fotografie der Gegenwart auszeichnet: Sie zeigt sich in großen, für die Wand konzipierten Formaten und geht im reflektierten Wissen um die Sichtbarkeit von Inszenierungsmöglichkeiten für Bildbetrachter wie Portätierte auf. Sie leitet so die Aufmerksamkeit weg von einer vorgängigen Szene auf die das Bild ordnenden Stukturen selbst.

Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wulfekampe und Matthias Wulf. Schirmer/Mosel, 433 S., 278 Abb., 58 €

zuerst erschienen in PHOTONEWS Zeitung für Fotografie Nr. 6/14 S.17