Aus Anlaß der Buchveröffentlichung von Guido Baselias Fotobuch „Light Fall“ zeigt die Galerie Andres Thalmann bis zum 03.05.14 eine Auswahl seiner Fotographien. Wortlaut meiner im Begleitprogramm zur Ausstellung am 10. April 2014 gehaltenen Rede:
Fotografie bringt uns nicht nur längst entschwundene Augenblicke der Vergangenheit näher, sie konfrontiert uns auch mit einer Betrachtungsweise, die ein Stück weit die unsere ist, darüber hinaus aber explizit visuelle Strukturen erfasst. Diese sind in einer Situation, einem Geschehen zwar bereits angelegt, werden aber für uns erst auf der Aufnahme reflektiert. Einzelheiten und Ausschnitte, Kombinationen und Licht-Schattenverhältnisse werden sichtbar, die unsere Augen, die ihre Aufmerksamkeit im Alltagsgeschehen auf viele Faktoren gleichzeitig richten müssen, nur selten wahrnehmen können.
Zeitlichkeit spielt indes nicht nur für die Kapazität unserer Augen eine Rolle, sie bildet auch die immer wieder neu zu ergründende Faszinationskraft der Fotografie.
Betrachten wir auf einer Landschaftsaufnahme Steinformationen oder die Klüftung einer schroff abfallenden Felswand im Gebirge, in ein Licht gesetzt, das so nur in diesem Moment aus kosmischer Ferne auf eine irdische Landschaft trifft, so haben wir es mit einer sehr speziellen Form von Zeitlichkeit zu tun. Das Sonnenlicht ist Voraussetzung für unser Leben auf der Erde. Und es ist gleichermaßen als natürliches Licht auch für das Zustandekommen der vor uns liegenden Fotografie unabdingbar. Jedes Mal, wenn wir indes die Aufnahme ansehen, ist unsere Lebenszeit ein Stück voran geschritten, während die Konstellation auf der Aufnahme so verharrt wie sie zum Zeitpunkt ihres Entstehens eingetreten ist. Bei Aufnahmen, auf denen Menschen zu sehen sind, nehmen wir diese Differenz in der Zeitlichkeit im Fortschreiten des kollektiven Alterns wahr, besonders wenn wir die Menschen kennen oder gar wissen, dass sie bereits gestorben sind.
Sehen wir Gebirgslandschaften ist es schwierig zu sagen, aus welcher Zeit das Bild stammt, solange sich nicht gravierende Veränderungen in der Aufnahmetechnik feststellen lassen oder vom Menschen vorgenommene Eingriffe in der Landschaft offensichtlich werden. Und wir haben überdies oft auch nur einen ungefähren räumlichen Anhaltspunkt, welchen Teil der Erde wir hier auf dem Bild tatsächlich vor uns haben.
Indes bekommen wir auf einer Aufnahme diese kaum zu greifenden Raum-Zeitverhältnisse in einem ästhetisch fassbaren und definierten Rahmen vor uns zu sehen: Wir betrachten nicht das Ganze, sondern nur den Bildausschnitt, den uns der Fotograf vorlegt. In jedem Fotografen, der seine Kunst ernsthaft betreibt, steckt jemand, der ein Erkenntnisinteresse hat, der eine Weltsicht mit seinen Bildern zu transportieren weiß. Sein Anliegen wird einmal mehr, einmal weniger deutlich, ist manchmal auch erst aus dem historischen oder kulturellen Abstand zu entschlüsseln. Es formt und zeigt sich in den unterschiedlichen Werkkomplexen, die ein Fotograf nacheinander oder gleichzeitig verfolgt. Diese bilden das übergreifende System, das den Aufnahmen ihre Ordnung verleiht, sie mit einer Fragestellung, einem Erkenntnisinteresse versehen ja, sie ein Stück weit kuratiert. Die Gültigkeit seiner Werkkomplexe unterscheidet neben dem handwerklichen Können einen Fotografen vom Knipser, dem durchaus auch hier und dort eine interessantes Bild oder gar eine Serie gelingen mag. Ein Werkkomplex ist keine beliebige Serie, die formal ähnliche Aufnahmen aneinander reiht. Ein Werkkomplex widmet sich vielmehr einem Sachverhalt, der sich im Fortgang der fotografischen Arbeit so erschließt, dass die Aufnahmen über den ins Licht gesetzten Gegenstand hinaus eine kulturelle Disposition oder etwas noch Nie Geschautes sichtbar werden lassen .
Manchmal erfahren wir beim Betrachten etwas, dass uns, ähnlich wie in anderen Künsten, ganz bei uns selbst sein und gleichzeitig über uns hinauswachsen lässt. Wer ins Gebirge aufbricht, Sternenbilder am Himmel nachzuvollziehen versucht, oder den wechselnden Stand der Sonne über den Tageslauf hinweg verfolgt, begibt sich in eine Situation, auf die er nur bedingt oder gar keinen Einfluss hat. Das sind Erlebnisse, die uns in Regionen weit weg von der Zivilisation führen. Braucht es bei so starken Eindrücken Bilder? Wer versucht einfach zu knipsen, wird enttäuscht sein, die Fotografien werden nicht annähernd das widerspiegeln, was man erfahren hat, festhaltenund mitteilen möchte.
Ein Fotograf haucht seinen Bildern mit dem Licht, das er sich zu Diensten macht, neuen Atem ein, Gebirgsluft sozusagen oder eine Prise, die von der offenen See herüberzuwehen scheint. Dies ist eine poetische Aufgabe, die Augenmaß, Erfahrung, Fingerspitzengefühl benötigt, sowohl beim Fotografieren selbst als auch später, bei der Arbeit in der Dunkelkammer.
Wer sich mit Guido Baselgias verschiedenen Werkkomplexen beschäftigt, wirft einen Blick auf Naturvorkommen, die einen Gegenpart zur Lebenswelt bilden, lebensverneinend wie die alpine Welt und doch wichtig für das ökologische Gleichgewicht, lebensermöglichend, wie das Licht der Sonne, deren Erscheinen und Stand über den Tag hinweg in Langzeitbelichtung mit der Großbildkamera festgehalten werden kann. Das Liniengeflecht natürlicher Verwehungen und Verkarstung, der Weg, den sich Wasser bahnt, die Oberfläche der Erde, all das ist auf Baselgias Schwarz-Weiß Aufnahmen kein beiläufiger oder gar eintöniger Prozess, sondern ergibt, in eine fotografische Komposition neu gebettet und so dem Werden und Vergehen entzogen ein ruhiges Bild von großer Schönheit. Es ist ein natürliches Geschehen, das ohne uns auskommt – sogar besser als wenn wir als Menschen auf den Plan treten.
Gibt uns das ein Gefühl der Freiheit und des Loslassens? Und bildet das Gebirge, der Fels, auf dem wir dort stehen, einen festen Grund, eine Art Fundament des Daseins, der steinerne Boden unseres „Hauses“ als Erdbewohner das auch hohe symbolische Bedeutung für unser Weltbild besitzt? Das „Erdbeben von Lissabon“ im Jahre 1755 zum Beispiel, das in Literatur und Philosophie seiner Zeit die Spuren eines kollektiven Traumas hinterließ, wie später erst wieder der Erste Weltkrieg mit seinen Schützengräben in Europa, zeigte, wie wichtig der Boden, auf dem wir sicher stehen, für unser Selbstverständnis in der Welt ist.
Ansichten vom Gebirge bilden auch das stabile Fundament und den Ausgangspunkt von Guido Baselgias immer weiter führenden, immer mehr zu den Grundfragen des Lebens wie der Fotografie vordringenden Unternehmungen, die er mit der Kamera im Gepäck systematisch vornimmt.
Baselgias Aufnahmen von Felsformationen im Hochgebirge (Foto S.96/97 oder S.120) konfrontieren uns mit Rissen, Klüften und Schichtungen im Gestein, die in die feinen Grauabstufungen und Tonwerte des Silbergelantinepapiers fotografisch übersetzt werden und so auf dem Bild für uns sinnlich erfahrbar werden. Die Bilder wurden jenseits der Baumgrenze aufgenommen. In ihrer existentiellen Härte bildet die schroffe Gebirgswelt für den Betrachter kein menschliches Gegenüber, das einlädt, allzu vertrauensselig in der anorganischen Natur nach Geborgenheit zu suchen. Ganz im Gegenteil: Dieses steinerne Gegenüber fordert in seiner Wucht gerade dazu auf, wenigstens mental dem Gesehenen Paroli zu bieten und in sich selbst als Mensch und denkendes Wesen Rückhalt und Balance zu finden.
Und wie ist es erst um das fragile menschliche Selbstverständnis bestellt, wenn man sich mit dem Pendant zum standhaften Felsen, den flüchtigen Himmelserscheinungen beschäftigt?
Auch ganz ohne bergenden religiösen Kontext wie zum Beispiel bei Adam Elsheimer, der 1609 als erster die Milchstraße in der Malerei auf einer „Flucht nach Ägypten“ zeigt, fühlt man sich hoch oben im Gebirge, Sternen, Mond und Sonne, bzw. ihrer Lichterscheinung, ein Stück näher als dies unten in der Ebene oder heute in einer künstlich beleuchteten Stadt der Fall sein mag (auch wenn diese Nähe rein prozentual angesichts der Entfernungen nicht wirklich zu Buche schlägt.)
Mittlerposition der Fotografie
Licht, das auf eine lichtempfindliche Trägerschicht fällt, bildet die Voraussetzung für Fotografie und nach wie vor stammt die schönste Definition für analoge Fotografie vom Naturforscher und Expeditionsreisenden Alexander v. Humboldt. In einem Brief aus dem Jahr 1839 beschreibt er das zu diesem Zeitpunkt noch blutjunge Medium, das ausschließlich mit Tageslicht arbeitet: „Gegenstände, die sich selbst in unnachahmlicher Treue mahlen; Licht, gezwungen durch chemische Kunst, in wenigen Minuten, bleibende Spuren zu hinterlassen (…).“
Humboldts Entzücken bezog sich auf die Daguerreotypie, die anders als die spätere Fotografie Unikate auf beschichteten Metalltafeln zeigt. Silber, Salze und Wasser bilden hingegen die materielle Basis des späteren Silberbilds in der Analog-Fotografie. Bis heute bietet der Silbergelantineabzug in seiner feinen Reflexion des einfallenden Lichtes die intensivste Erfahrung der Schwarz-Weißfotografie, die Beherrschung der Dunkelkammerarbeit einmal vorausgesetzt.
Von hier aus betrachtet steht das Medium der analogen Fotografie mit dem Silbergelantineabzug auch als Mittler zwischen Gestein – dem aus Bergwerken geförderten Silber – und der Sonne. Solche Seitenblicke auf die materiellen Voraussetzungen der Fotografie geben Baselgias Aufnahmen von Salzseen in den Hochebenen Boliviens („Silberschicht“, 2008) einen zusätzlichen Horizont. Und betrachten wir Bilder von alpinen Felsformationen, die in ihrem Gestein verschiedene Stadien der Naturgeschichte archivieren, denkt man unwillkürlich an eine ‚Geologie der Fotografie‘ als eine in verschiedene Richtungen handhabbare Metapher zur Charakterisierung von Baselgias wohldurchdachtem Werk.
Indes kommt auch in zeitlicher Hinsicht der klassischen, analogen Fotografie, denkt man noch ein Stück weiter, eine Zwischenposition zu: Das latente Bild speichert das noch nicht zur Sichtbarkeit Gekommene, solange auf Vorrat bis zu einem späteren Zeitpunkt das Negativ entwickelt wird. Zwar ist auch bereits das Licht der Sonne immer schon vergangenes Licht, da es rund 8 Minuten braucht, um bei uns auf der Erde einzutreffen. Lässt man diese kosmische Verzögerung indes außer Acht und nimmt nur den fotografischen Prozess des Aufzeichnens in den Blick, haben wir es mit einem Prozess zu tun, der sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ereignet. Weitere Zeit verstreicht bis das latente Bild erscheint oder die Fotografie für die Rezeption außerhalb der Dunkelkammer in wiederum voneinander differierenden Zeitspannen, die auch Jahre umfassen können, in Vintageprints oder späteren Abzügen vollendet worden ist: Unter diesem Blickwinkel betrachtet wird die analoge Fotografie auch zum Medium zwischen kosmischer Strahlung, die sich (fast) unmittelbar aufzeichnet, und der menschlichen Zeit des Anschauens, des Aufbewahrens und Bearbeitens.
Baselgia hat mit seiner Kamera geologische Formationen der Erde erkundet, Schritt für Schritt ergaben sich daraus die (geografischen) Koordinaten seines Werks . Frühere Arbeiten führen vom Engadin (dem Werkkomplex „Hochland“) in die Hochebenen von Bolivien („Silberschicht“). Letztere setzen auf einer Höhe an, wo im Engadin mit einem Viertausender bereits das höchste Ausmaß des Gipfels erreicht ist. Dann wendet sich das Aktionsfeldes des Fotografen, der sich besonders für die Baum- und Vegetationsgrenze interessiert hat, von der geografischen Höhe der geografischen Breite zu. Es ’senkt sich‘ von Hochebenen und Gebirgsformationen hinab auf Schauplätze, die sich in der Höhe des Meeresspiegels befinden. Orte, die das „Finis Terrae“, das Ende der Welt auf dem Festland zu sein für sich beanspruchen, offenbaren ihre schroffe Schönheit diesseits und jenseits des Atlantiks. So auf einem Bild, das in Norwegen entstanden ist: Wind und Verwerfungen sind hier am Werk gewesen, mit Kraft und Beharrlichkeit hat die Natur ihr Material geglättet, zurechtgestutzt und gezupft, dann wieder auseinander geworfen und erneut zu einem momentan gegebenen Ganzen geschichtet. In der Bildmitte lockt ein anthrazitfarbener Stein, er ist von weißen Linien durchzogen, als hätte eine unsichtbare Hand dort einen visuellen Anker gesetzt.
Hoch im Norden herrschen Extreme, was die Dauer von Helligkeit und Dunkelheit angeht. Gebiete im Norden sind besonders von der Stellung der Erde zur Sonne, dem Neigungswinkel der Erdachse zu ihrer Bahn, betroffen. Das hat Auswirkung auf die Sonneneinstrahlung: Während der Polarnächte zeigt sich die Sonne wochenlang nicht am Horizont. Und taucht sie wieder auf, beschreibt ihre Bahn fast eine Horizontale.
Guido Baselgia hat die Kamera während des ‚Tages‘ oder der ‚Nacht‘ („Durch die Mitte der Nacht“ Foto S.14 „Durch die Mitte des Tages“ Foto S.15 oder S.125 heißen die Titel dieser Fotos) an einem ruhigen Ort in Norwegen am 70. Breitengrad aufgestellt und die Linie ihres ‚Laufs‘ in Langzeitbelichtungen festgehalten. Wie ein mit Licht getränkter Pinsel, der in einer gewaltigen Pendelbewegung über den Himmel hinweg streicht, zeigen die Aufnahmen ein nur mit der Kamera – nicht mit dem Auge – zu erzeugendes Bild: mit der Langzeitbelichtung wird ein Kontinuum erbracht, um für uns als Gesamtablauf das allmähliche Vorrücken der Sonne auf das Bild zu bannen. Wir kennen diese Striche und Streifen von Aufnahmen schnell bewegter Objekte, wie vorüberfahrender Autos, die als flirrende Leuchtspuren in der Nacht an ein futuristisches Gemälde erinnern. Ein frühes Gegenstück aus der Fotografiegeschichte dazu bilden die Momentaufnahem von Muybridge Ende des 19. Jahrhunderts, der Bewegungungsabfolgen wie zum Beispiel das Gehen oder Springen in einzelne Phasen zerlegt, die für das träge menschliche Auge zu schnell sind, um voneinander unterschieden zu werden.
Am Himmel aber entsteht keine Hektik, sondern es herrscht große, wohldefinierte Ruhe, ein Ablauf, der in seiner grundsätzlichen Ausrichtung durch nichts gestört zu werden scheint. Was wir sehen, kehrt mit geringen Abweichungen ein Jahr später wieder, und kann erneut aufgezeichnet werden, sofern wir zur Stelle sind und das Wetter es zulässt.
Das Segment der Umlaufbahn, das in anderen Aufnahmen in der Langzeitbelichtung je nach geografischem Standort und Jahreszeit als hell leuchtende Gerade oder aber als konkav oder konvex geschwungene Kurve über dem dunklen Horizont zur Sichtbarkeit gebracht wird, zeigt einen Ausschnitt des scheinbaren „Sonnenlaufs“ am Firmament. Es ist aber nicht, wie bis in die Neuzeit hinein angenommen, die Sonne, die sich über ein statisch bleibendes Himmelsgewölbe bewegt, sondern die um sich selbst rotierende Erdkugel, die sich auf ihrer elliptischen Umlaufbahn in einem bestimmten Neigungswinkel der Sonne zu- und wieder von ihr abwendet. Die Sonne dreht sich währenddessen nur um sich selbst. Je nach Jahreszeit bescheint die Sonne einen anderen Teil der Erdkugel aus einem anderen Einfallswinkel.
Diese gedankliche Umkehrbewegung zu vollziehen, von dem was wir in Ausschnitten von unsrem jeweiligen geografischen Standort aus erblicken, tatsächlich abzusehen und uns diesen komplexen Wechselwirkungen zuzuwenden ist nicht einfach. Die Aufgabe stellt große Anforderungen an das räumliche Vorstellungsvermögen und verlangt von dem, was wir von Kindheit an zu sehen bekamen und auch weiterhin vor Augen haben, vollkommen zu abstrahieren. Wir verlassen uns allzu gerne auf unsere Augen und betrachten das Himmelsgeschehen von unserem anthropozentrischen Standpunkt. Und, so wir nicht verreisen, orientieren wir uns auch an dem, was wir an einem relativ konstanten geografischen Ort täglich vor uns sehen.
Entlang der Umlaufbahn
Und doch: Will man die – für uns sichtbaren Bewegungen der Sonne erkunden – kann man zu gegebener Zeit sich an unterschiedlichen Breitengraden einfinden und geduldig auf ihr Erscheinen warten. Baselgias Weg führte ihn im Voranschreiten seines Werkes dazu, dem unterschiedlichen Sonnenstand nachzureisen. Dabei verlegt er die Koordinaten seines Aktionsfeldes, ausgehend von der Beobachtung der Sonne und des Erdschattens systematisch weiter nach Westen. Auch wenn er zwischendurch immer wieder einmal zurück auf den Piz Languard im Engadin zurückkehrt: Die Reise führt folgerichtig bis nach Ecuador (Foto 44 Äquatorial Erdschatten) und nach Feuerland (Foto 105, S.127). Am Äquator, ergibt sich das komplementäre Bild zur wagrechten Linie, welche das Erscheinen der Sonne im Norden beschreibt. Hier ‚wandert‘ die Sonne während des Tages durch den Zenit, was auf den langzeitbelichteten Aufnahmen wie eine gewaltige, senkrecht gen Himmel ragende Lichtsäule aussieht (Fotos 75, S. 127);
Baselgias fotografisches Anliegen ist grundlegender Natur: Folgt man behutsam den Vorgaben des Sonnenlaufs mit der Kamera als Erkundungmedium, möchte man annäherungsweise eine Vorstellung von der vollständigen Bewegung bekommen und damit gedanklich den Kreis schließen, ist man im Begriff, damit auch die Bedingungen für organisches Leben und von Sichtbarkeit auszuloten und zu erfassen. Das sind erhebende, beglückende, schwindelerregende, taumelnde Momente. Sie sind von nüchterner Präzision beseelt, so man sich an das Vorgegebene hält. Man kann dabei auch die sich bietende oder sich entziehende Chance ergreifen, die Himmelserscheinungen im Kontext der unter ihnen ausgebreiteten Landschaft zu verfolgen.
Baselgias Unterfangen braucht Geduld und erforderte an den entlegenen Orten, an denen Sterne, Mond und Dämmerungserscheinungen ungestört von Bebauung und künstlichem Licht beobachtet werden können, auch körperlichen Einsatz: Die Witterungsbedingungen in großer Höhe oder im Norden sind herb, eisige Kälte ist der Begleiter, meist ist man allein mit sich, dem mitgeführten Gerät und den eigenen Gedanken. So geschieht ein ungeheurer Verlangsamungsprozess bereits im Bildfindungsgeschehen selbst. Einige Unterlagen, die Baselgia im Anhang des Buches veröffentlicht hat und welche die aufwendigen Vorbereitungen zeigen, verdeutlichen dies.
Wir finden aber auch Aufzeichnungen, in denen Baselgia Grundsätzliches notiert, ganz neue Erkenntnisse für sich festhält:
„Am Äquator habe ich eine neue Sicht auf die Erde erfahren, nämlich dass die Äquatorlinie nicht die Welt in oben und unten teilt, sondern aus dieser Perspektive eine vertikale Linie bildet, die die beiden Hälften vereint. (Ich stehe auf der Äquatorlinie und schaue ihr entlang, „Mitád del Mundo“ eben.)“
Die Himmelserscheinungen indes, deren Anblick Baselgia vom einen zum anderen Kontinent hinterher gereist ist, zeigen sich nur innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitfensters während des Sonnenjahres. Wenn sie sich zeigen, sind sie von strahlender Evidenz. Sie können aber auch hinter Wolken und Nebel verborgen bleiben und dann scheint es mitunter auf dem langzeitbelichteten Bild, als ob sie ihre eigene Lichtspur am Himmel ausgewischt hätten, als wäre eine Hand mit einem Schwamm über eine große Schiefertafel hinweg gefahren. Hier kann es für den Fotografen nur Annäherungen geben. Vollkommenheit kann nicht im Erhaschen einer lückenlosen Spur, einer idealen Verlaufskurve erzielt werden (z. B. Foto S.90/91), sondern sie liegt in der Ästhetik des so gewonnen, irdischen Bildes – die Schönheit eines fotografischen Bildes gehorcht eigenen Regeln und ästhetisches Erkennen scheidet sich hier vom rein problembezogenen, naturwissenschaftlichen Interesse.
Vieles entscheidet sich dann auch erst später bei der Arbeit im eigenen Labor, in der Kunst der Grauabstufungen, die manchmal geradezu einen Anhauch von farbigen Höfen in den Sonnenbögen auszusenden scheinen. Die auf dem Bild sichtbar gewordene Intensität des Lichteinfalls und nicht zuletzt das Zusammenspiel der Tonwerte untereinander sind Resultat dieser Arbeit.
Bei manchen Landschaftsaufnahmen, in denen sich Nacht zu Schnee gesellt, Wasser zu Wolken oder das Licht diffus ist, überlegt man, so man sie als Abzug vor sich hält, was oben und was unten sein könnte, ob die Schwärzung und die hellen Stellen auf dem Bild ein Positiv oder ein Negativ zeigen. Es ist eine Art kleiner Schneesturm, der sich hier im Kopf ereignet, ein Verlust der räumlichen Orientierung, bei dem man nicht mehr als die Hand vor den Augen zu erkennen vermeint.(Foto S.22,28,29,36 und S. 131)
Umkehrbewegungen
Will man sich weiter in die Materie eindenken und sich die ‚Himmelsmechanik‘ vergegenwärtigen, die hinter der Schönheit der Lichterscheinungen steckt, den feinsten Tonstufen und Helligkeitsbögen, welche die Aufnahmen wie ein Glücksversprechen zeigen, gilt es immer wieder die geschilderte mentale „Umkehrbewegung“ vorzunehmen. Das bedeutet nichts weniger als sich innerhalb der Geometrie eines dreidimensionalen Raums, also nicht auf der zweidimensionalen Bildfläche der Fotografie, die wir vor uns sehen, den Stand der Erde gegenüber der Sonne vorzustellen. Darüber hinaus gilt es, den Standort des Fotografen zu bedenken, den er zur Zeit der Aufnahme innehatte. Je nach geografischem Breitegrad bietet sich der Kamera eine anderes Bild der Abläufe.
Da helfen dann manchmal nur noch die eigenen Händeund der beringte Finger, will man sich die Neigung der Erde zur Sonne, ihre Rotation um die eigene Achse auf ihrer Bahn um die Sonne und den geografischen Ort des Fotografen auf der Erde im Dreidimensionalen gleichzeitig vor Augen führen: Betrachten wir den Himmel oder ein vor uns liegendes Bild bietet sich uns nur die anthropozentrische Innensicht.
Umkehrbewegungen indes sind Vorgänge, die das Gehirn immer schon gelernt hat, vorzunehmen – auf der Netzhaut steht unser Sehbild noch auf dem Kopf, erst das Gehirn dreht es um. Und auch das fotografische Bild entsteht in einer Art Umkehrbewegung auf dem Negativ: Das Licht schwärzt die fotografische Platte oder den lichtempfindlichen Film, ein lichtundurchlässiger Gegenstand hingegen erscheint hell.
Diesen Teil- und Umkehrbewegungen, die uns unsere Augen, die Kamera und unsere Postion auf der Erde abverlangen, geht Guido Baselgias in seinem Werk Schritt für Schritt, Bild für Bild nach. Ästhetisch wird das für uns fassbar im kleinen Schwindel, der uns ergreifen kann, wenn wir die Ernsthaftigkeit und die ungeheuere Präzision der Arbeit des Fotografen verfolgen. Baustein für Baustein erarbeitet er sich ein Modell des Weltgebäudes, das doch in manchem wie ein Palimpsest, eine antike Manuskripstseite aus Pergament angelegt sein muss, auf der durch Schaben oder Waschen im Lauf der Zeit immer neue Schichten von Schrift dazugekommen und übereinandergelegt worden sind. Momentan ins Auge Fallendes und Verborgenes, später aber doch wieder zur Sichtbarkeit Kommendes ist hier im Medium vereint.
Betrachten wir die Bildfolgen im Ganzen, so sehen wir die Spuren des Lichts in der Bewegung der Erde, wir vollziehen die Kreisbewegung nach, wenn wir sie mental zu einem elliptischen Kreis zusammensetzen, wir sehen die Segmente, die Lichtsäule am Äquator (Fotos S.67 und S. 131), die glattgestrichene Bewegung, der sich am Ende der Polarnacht im Dämmerungsgeschehen wieder zeigenden Sonne (Foto S.60 und S.131). Und vielleicht können wir uns am Ende mental an einen Standort versetzten, wo die Sonne für die nördliche Erdkugel und am südlichen Himmel untergeht und zugleich für die südliche Erdkugel, die den nördlichen Himmel über sich hat, wieder aufgeht.