Das Optisch-Unbewusste: Miroslav Tichýs monumentales Werk

Der Balanceakt, den die Welt der Moderne ihren Bewohnern auf dem Schauplatz der urbanen Öffentlichkeit abverlangt, ist so ambivalent wie reizvoll: Man wird gesehen, fordert oder erwidert den Blick der Passanten, erhascht verstohlen fremde Aufmerksamkeit und ist stets darauf bedacht, seine Individualität zu behaupten und dabei doch die eigene Verletzlichkeit zu cachieren. Noch schwieriger als für Männer gestaltet sich das Terrain für Frauen, ist es doch historisch betrachtet noch nicht allzulange her, dass sich Frauen mehr oder weniger unbehelligt alleine auf der Straße zeigen können.

Miroslav Tichý (1926-2011), ein tschechischer Fotograf der Moderne, hat über Jahrzehnte hinweg die Welt der Frauen mit der Aufmerksamkeit eines Kindes beobachtet, das der Mutter beim Hantieren und Ankleiden zusieht: Ein Stück weit hat es ein Anrecht aufs Zuschauen, man teilt Raum und Zeit – und dennoch scheint flüchtig und schwer zu fassen auf, dass die Mutter als erwachsene Frau noch Zugang zu einer ganz anderen, unbegreiflichen Welt haben muss. Diese eigene Welt, die jede Frau in Haltung und Gesten zu schaffen versteht, ihr ganz unverwechselbares So Sein, jenseits der Posen, aber doch von kulturellen Erwartungen durchtränkt, gibt es in Tichýs wunderbarer Welt zu sehen: Er hat sie als Künstler aus dem prosaischen Alltag einer Kleinstadt (Kyjov) in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren „extrahiert“.

Man sieht selbstversunkene Frauen, die ganz bei sich, eine Art Glanz um sich verbreiten, Beinhaltungen und Faltenwürfe von Röcken, Zwischenräume, die wie bei einer Plastik einen zweiten Raum zwischen Körperkontur und Gliedmaßen gestalten. Oder eine Frau im Arbeitskittel, das Haar hochgesteckt, die Füße in Pantoletten quert rasch die Straße, von hinten gesehen und in beiläufiger Anmut: Aby Warburg, der in einer berühmten Schrift der Figur einer leichthin daher eilenden Magd nachging und in ihr den – über die Zeiten hinweg wiederkehrenden – Bildgegenstand der antiken Nymphe sah, hätte seine Freude daran gehabt. Einen Teil der Bilder hat Tichý mit selbstgefertigten Rahmen aus einfachem Material versehen: Papier und Pappe, mit Filzstift bemalt, Fundstücke, die, wiewohl sehr fein auf die Komposition des Fotos abgestimmt, von fern an die Gaben eines Grundschülers erinnern.

Kuratiert von Thomas Schirmböck werden atmosphärisch dicht und ästhetisch überzeugend, überwiegend ungezeigte Fotos des großen, umstrittenen Fotografen präsentiert. Auf dunklem Grund, mit wohlbedachter Lichtführung, die an der Stirnseite des Raumes mit gezackten Schatten gleichermaßen an die expressionistische Kulisse von „Caligari“ wie Tichýs Schnitttechnik erinnert, erweist sich hier der Ausstellungsraum von Zephyr als Glücksfall. Miroslav Tichýs Produktionsbedingungen sind Teil seines Werks: Er hat systematisch tagaus tagein mit Billigkameras und selbstgefertigen Objektiven auf begrenztem Terrain in seiner Heimatstadt fotografiert. Nach eigenen Angaben nahm er 100 Bilder pro Tag auf, entwickelt sie und vergrößert Ausgewähltes – das dann in der Regel ein Unikat blieb. Nachlässiger Umgang mit den Papierfotografien und gestalterische Eingriffe, wie Übermalungen, asymmetrische Bildausschnitte und die Arbeit der Zeit sind Teil der Konzeption. Dieses merkwürdige Spannungsfeld zwischen zeitenthobener Anmut der so faszinierenden Ausstrahlung der Frauen, dem im besten Sinne „Optisch-Unbewußten“ (wie es Walter Benjamin Aufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie attestierte) und dem Tichýschen Verfahren gibt den Bildern ihren einzigartigen Reiz, schafft ihr unverwechselbares Timbre, gehört zur Tichýschen Passion. Das alles kommt in dieser Ausstellung zum Vorschein, sieht man „nur“ auf das Visuelle, ohne dass man einen Blick auf das jedem Besucher zugesteckte, schön gestaltete „Handbuch“ in Form einer kleinen Begleitbroschüre wirft. Diese Möglichkeit des doppelten Zugangs ist besonders wichtig, gilt es doch hier den Künstler, der ungewollt und ohne finanziell davon profitieren zu können, für einige Jahre zum Shooting Star der westlichen Kunstszene avancierte, von der Fessel seiner durch Roman Buxbaum zur Legende stilisierten Biografie und der Rezeption als „Art brut“- Künstler zu befreien. Tichý hatte vielmehr ein mehrjähriges Kunststudium an der Kunstakademie Prag absolviert, erste Anerkennung auf dem Gebiet der Malerei und Zeichnung erfahren, das Studium dann aber nicht zu Ende gebracht. Zeit seines Lebens hatte er mit großen psychischen Problemen bis hin zur körperlichen Verwahrlosung und Armut zu kämpfen und war immer wieder aufgrund seiner Lebensführung und intellektuellen Unabhängigkeit staatlicher Repression ausgesetzt. Dennoch blieb er als gebildeter und belesener Intellektueller – und der umsichtig und von langer Hand vorbereitete Katalog, der bisher ungehörte Zeitzeugen aus Tichýs Umfeld zu Wort kommen lässt, legt dies plausibel dar – in Gespräch und Austausch mit Freunden, ein humorvoller und informierter Gesprächspartner. Wie so oft, ist im Fall des 2011 verstorbenen Tichý der Streit um die Deutungshoheit hinsichtlich seiner schwierigen Persönlichkeit und der Provenienz des Bilderschatzes groß und es ist an der Zeit, Tichýs ästhetisch anspruchsvollen Beitrag zur visuellen Kultur der europäischen Moderne zu erforschen, der sich gerade nicht das Leben in einer „Hauptstadt des Zwanzigsten Jahrhunderts“, sondern an der Peripherie zum Untersuchungsgegenstand erkoren hat.

Miroslav Tichý: Die Stadt der Frauen. Zephyr – Raum für Fotografie Mannheim. Bis 26.05.13. Katalog Kehrer Verlag, 29.90 €

zuerst erschienen in: PHOTONEWS Zeitung für Fotografie Nr.4/13 April 2013 S.4