Carsten Sternberg: Bali – Beyond Paradise

11„Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der fotografischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht“ – mit diesen Worten beschreibt der Schriftsteller W.G. Sebald in seinem Roman „Austerlitz“ die Faszination, die von den chemischen Prozessen in der Dunkelkammer ausgeht. Wie prägend solche Erfahrungen sein können, die das kurze Aufblitzen eines weltenschaffenden, demiurgischen Moments mit dem magischen Denken des Kindes verbinden, berichtet auch Carsten Sternberg, wenn er erzählt, wie er schon als Fünfjähriger dem Vater zur Hand gehen durfte, der als Hobby seine Negative zuhause selbst entwickelte. Zwei Aufgaben oblagen dem Jungen: Zuerst legte er das Papier ins Fixierbad, älter geworden, beobachtete und entschied er, wie lange das – vom Vater meist stark belichtete – Foto in der Entwicklungsschale verweilen sollte, um die optimale Schwärzung zu erreichen. Carsten Sternbergs Gespür für Licht und der große Wert, den er auf die geradezu haptisch zu fassende Plastizität der Schwarz-Weiss Fotografie legt, hat ihren Ursprung in diesen Augenblicken kindlichen Glücks im Bauch der Dunkelkammer. Die „dunkle Kammer“ ist indes keine „helle Kammer“ wie der programmatische Titel von Roland Barthes‘ berühmter Schrift zur Fotografie lautet. Roland Barthes begründet seine theoretischen Überlegungen zur Fotografie mit einem persönlichen Verlust, dem Tod der geliebten Mutter. Verzweifelt sucht der Trauernde nach einem gültigen Foto, welches das Bild der Mutter so wiederzugeben vermag, wie er als liebender Sohn sie gesehen haben möchte und wie seine Erinnerung es ihm gebietet. Carsten Sternberg hat als Vierzehnjähriger sein Bild von der Mutter selbst gemacht, es war seine dritte Aufnahme mit der ersten eigenen Kamera. Es ist ein erstaunlich sicheres und gelassenes Foto: Es zeigt die Mutter auf dem Balkon, in einem Liegestuhl sitzend, auf ihrem Schoß liegt ein Paar Strümpfe mit Rautenmuster, sie stopft gerade. Diese Gelassenheit gegenüber dem eigenen Tun will man dem Foto glauben schenken, ist es ein – zumindest visuell – in dieser Aufnahme begründetes mütterliches Erbe – begleitet Sternbergs Arbeit. Roland Barthes, dessen Schrift für das Nachdenken über Fotografie so wegweisend wie für ihren Kunststatus problematisch ist, unterscheidet beim Betrachten einer Fotografie zwischen einem Studium, also dem Interesse für Absicht, Umfeld und handwerkliches Können des Fotografen und dem Punktum dem Überraschenden und Unbeabsichtigten. Das Punktum verführt den Betrachter zu oft weitgreifenden Spekulationen darüber, was das zufällig ins Bild Gekommene über Personen und Lebensumstände preisgibt, gerade das Unbeholfene und Beiläufige, das kleine, leicht zu übersehende Detail, berührt ihn besonders. Diesem bewusst subjektiven, spekulativen Moment des Punctums gibt Barthes ganz entschieden gegenüber dem kühlen, von Kenntnis getragenen Studium den Vorzug.

Die Unterscheidung wird für den Betrachter indes hinfällig, lässt er sich auf Sternbergs Bilder ein. Wer das Licht einzuschätzen und seine formenden Qualitäten so zu nutzen weiß, dass die Gegenstände, die es konturiert und die Atmosphäre, in die es sie taucht, als Schatten der Wirklichkeit auf dem Foto sichtbar werden, hat sein Wissen und Können ins Bild gesetzt. Sternbergs Haltung gegenüber den Menschen, die er porträtiert, zeichnet sich durch Gelassenheit und freundliches Interesse aus. Es sind faire Vereinbarungen, die er für die Dauer der fotografischen Situation schafft und mit seinem Gegenüber eingeht. Wozu auch nach Indizien suchen, die über die fotografische Situation hinaus etwas verraten, was die Personen selbst dem Betrachter nicht preiszugeben bereit sind und das ohne ihr Wissen und Einverständnis im Bild festgehalten wurde? Von einem einheimischen Führer begleitet, einem Hotelangestellten, der auch als Priester rituelle Situationen betreut, porträtiert er die Bewohner eines balinesischen Dorfes (Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche) so, wie der Führer sie ihm beim gemeinsamen Gang durch das Dorf vorstellt, dort, wie sie gerade anzutreffen sind. Man bittet um die Erlaubnis fotografieren zu dürfen, stellt sich einander gegenseitig mit Namen und Beruf vor. Und man kann ja mit den Menschen sprechen, das heißt, Sternberg fragt nach zwei Dingen, die vielleicht ein sehr europäisches Interesse bekunden mögen, aber die eigene Herkunft kann und soll ja auch nicht verleugnet werden: Es sind Fragen nach den Zukunftsplänen und den Wünschen. In der Regel werden greifbare, ganz und gar realistische Gegenstände genannt, welche die berufliche Situation ein wenig verbessern helfen würden, wie der Besitz einer weiteren Kuh, eines Huhns, eines Mopeds, um zum Beispiel nicht mehr, wie die Besitzerin eines Kiosks mit dem teuren Taxi die Waren an den Verkaufsstand transportieren zu müssen. Aber man wünscht sich nicht Dinge, die das Arbeiten per se überflüssig werden ließen, also Reichtum oder eine bestimmte Geldsumme oder immaterielle Güter wie Schönheit, Gesundheit, Glück ? es mag mit der Religion und dem so ganz anderen Lebenshintergrund zu tun haben. Einige Kinder wünschen sich, studieren zu dürfen. Nach diesen Erkundungen – nicht immer wurde geantwortet, aber das stört nicht, wichtig ist, dass die Frage überhaupt gestellt wurde – kommt die Kamera zum Einsatz. Sternberg bedient die Kamera mit dem Drahtauslöser, eine bewusste Entscheidung, die den Fotografen des schwierigen Momentes enthebt, während oder nach dem Gespräch den Fotoapparat zücken zu müssen. Auch diese Zurückhaltung gegenüber den Menschen in ihrem Umfeld teilt Sternberg in gewisser Hinsicht mit Sebalds Protagonisten Austerlitz, der über seine fotografischen Vorlieben zu berichten weiß: „In der Hauptsache hat mich von Anfang an die Form und Verschlossenheit der Dinge beschäftigt, der Schwung eines Stiegengeländers, die Kehlung an einem steinernen Torbogen, die unbegreiflich genaue Verwirrung der Halme in einem verdorrten Büschel Gras (…) wohingegen es mir immer unstatthaft erschien, den Sucher der Kamera auf einzelne Personen zu richten.“ so der von den Erlebnissen in der Dunkelkammer so begeisterte Austerlitz.

Eine behutsame fotografische Situation erschließt den Alltag in seinen Möglichkeiten, gibt dem Mitspieler Gelegenheit sich so zu zeigen, wie er selbst es gegenüber sich, dem Fotografen, dem einheimischen Führer und den unbekannten, späteren Betrachtern verantworten kann. Der Charme und das Besondere dieser Aufnahmen liegen im Unprätentiösen. Es sind Fotografien von Menschen, die sich bei ihrer Arbeit, bei alltäglichen Beschäftigungen oder in ihrer freien Zeit in Augenschein nehmen lassen und niemand hat sich dem Anliegen verweigert, aber auch niemand besonders dafür zurechtgemacht. Natürlich gibt es dennoch Posen, besonders bei den Jungen und das fotografiegeschichtlich geschulte Auge des Betrachters mag darin auch Anklänge an Ikonen der Fotografiegeschichte sehen, wie August Sanders „Jungbauern auf dem Weg zum Tanz“, wenn man die drei Jugendlichen und einen kleinen, ernst dreinblickenden Jungen hinter einem Motorrad stehen sieht: Bis auf den kleinen Jungen, der angibt einmal studieren zu wollen, eifern die Großen Vorbildern nach, was ? wie auch bei August Sanders Bauern im städtischen Sonntagsstaat natürlich nur mit Abstrichen gelingt: Der eine mimt den Cowboy, der Nächste den Gutaussehenden, der Dritte ist der Besitzer des Motorrads. Sie alle wollen Bauern werden, nur der kritisch dreinschauende Kleine in hellen Kleidern auf Zuwachs will noch woanders hin. Ein anderes Bild zeigt, als sei es eine Schulklasse im Nachkriegsfrankreich, ausgelassene Jungen. Sie sind in Schuluniformen gesteckt und dennoch das aus der Mode gekommene Wort bezeichnet es vielleicht am besten das sind Lausbuben, keine von der Konsumindustrie umworbenen „Kids“. Verängstigt schauen drei kleine Schulmädchen drein ein bedrückter Trupp, der sich aneinander klammert. Studieren möchten sie alle drei und hart wird der Weg dorthin sein. Ganz und gar konzentriert, neue Welten erkundend, sieht man kleine Mädchen beim Erlernen eines traditionellen balinesischen Tempeltanzes. Der Unterricht findet auf dem Vorplatz eines Hotels statt, das ihn dafür zur Verfügung gestellt hat und das auch die Lehrerin bezahlt. Es sieht nicht so aus, als sei das lediglich zum Vergnügen der Touristen arrangiert, sondern eher nach einer selbstverständlich in Anspruch genommenen Spielfläche. Der Bewegungsimpuls ist in Licht, Grauwerten, Mimik und miteinander rhythmisch korrespondierenden und doch individuell ihre Linie beschreibenden Lauf der Gliedmaßen aufgezeichnet. Man möchte das Bild weiterdenken, als schlüge man auf einer Trommel den Takt dazu: Wohin werden sie tanzen? Alles Glück dieser Welt wünscht man ihnen. Dieses zukunftsbezogene Moment, nicht wehmütig, kein bisschen sentimental, zeigt sich ja bereits in Sternbergs Fragen nach der Zukunft, die er den Menschen vor der Aufnahme gestellt hat. Dass die Fotografierten und sei es auch nur für einen Augenblick der Frage nach der Zukunft nachhängen, also ins Offene, Unbekannte blicken, lässt die Melancholie, die laut einem lange verfochtenen Credo jedem Foto innewohnt, da es Vergangenes, ja oft bereits schon Verstorbene zeigt, gar nicht erst aufkommen. Bei Sternbergs Ausflug ins ländliche, balinesische Alltagsleben, aber auch schon in einem vorangegangenen Projekt mit türkischen Migranten in Krefeld, werden die Porträtierten vor der Aufnahme mit dem Gedanken an die eigene Zukunft konfrontiert. Bei den türkischen Migranten stellte sich zusätzlich noch die Frage, ob sie in Deutschland bleiben wollten oder an Rückkehr dächten. Alle vorgestellten Personen zeigen sich also in der unmittelbar folgenden fotografischen Situation so in ihrer vertrauten Umgebung, wie man in ihr agiert, wenn man kurz zuvor an die eigene Zukunft, an Fernliegendes und doch Persönliches gedacht hat. Natürlich nimmt man dazu eine Haltung an, auch wenn man im nächsten Moment die Frage schon wieder vergessen haben wird oder sie einem als unsinnige Neugier eines Fremden vorkommen mag.

Bali ist ein agrarisch geprägtes Kulturland. Das Leben angesichts der überbordenden hinduistisch-balinesischen Festkultur erscheint für Europäer zunächst von tiefer, sinnenbetörender Religiosität wie bezwingender Einfachheit im Alltag, wo er ihn zu Gesicht bekommen möchte. Ein Masseur zum Beispiel, der im Hotel arbeitet, so zeigt ein Foto, hat seine Schlafstätte auf einer kargen Pritsche. Seine Hütte ist zwar gemauert und überdacht, aber nur durch zwei Wände geschützt, sie ist zum Hof hin offen, man schläft also ein Stück weit im Freien. Seine Kleider sind über ein Seil gehängt, ein Huhn quert die Szenerie ? auf dem Hof steht, wie ein anderes Foto zeigt, sein kunstvoll gebauter Tempel. Ein bezwingender Kontrast und doch ist er ganz einleuchtend, bedenkt man, dass in Bali zum Beispiel einer würdevollen Beerdigung ein höherer Stellenwert zukommt als irdischen Annehmlichkeiten. Auf einem weiteren Bild ist eine modern gekleidete junge Frau zu sehen, sie hockt am Ufer und wäscht. Anmut und Sorgfalt sprechen aus ihren Gesten, ihre Gestalt scheint sich dem Lauf des Wassers und den Konturen des Bodens zugleich anzuschmiegen. Eine weitere Fotografie zeigt eine archaische Kulturtechnik: Ein junger Steinmetz mit nacktem Oberkörper und Kopfbedeckung arbeitet konzentriert mit einem Keil. Von rechts oben bricht ein Sonnenkegel in die Szene ein und gibt ihr etwas zeitlos gültiges, der Betrachter versetzt sie auf seiner seelischen Landkarte in die Antike, nach Griechenland oder Ägypten. Tätigkeiten im Freien, so grundsätzlichen wie dem Bearbeiten der Steine und dem Waschen und Instandhalten der Wäsche, aber auch dem Schlafen und Opfern wohnt, so die Menschen selbst über ihr Leben bestimmen können, eine eigene Würde inne. Derjenige, der hier arbeitet und handelt, nimmt mit seinem Tun seinen Platz in der Welt ein. Auch wenn mancher, nach den Begriffen, die in unserer Kultur herrschen, noch ein bisschen zu klein erscheint für diesen Platz, den er behauptet wie der kleine Junge, der als Fremdenführer arbeitet und sehr ernst ob seiner Verantwortung aus dem Bild schaut.

Schwarz-Weiß-Fotografie schafft Distanz, ermöglicht aber auch Nuancen zarter, verhaltener Nähe. Der eigene Standpunkt wird abgewogen, das Gesehene nach Maßgaben des Mediums reflektiert. Dies geschieht nicht zuletzt, weil die Schwarz-Weißfotografie im Alltag und Mediengebrauch, nachdem selbst die Tageszeitungen auf Farbabbildungen umgestellt haben, selten, ja fast historisch geworden ist. Schwarz-Weiß-Fotografie konzentriert, verdichtet, übersetzt Farbschattierungen in Grauwerte, arbeitet Abstufungen heraus, die nie stechen, nie sich beißen, nie schrill werden, nie zu laut sind, allenfalls lau oder zu hart konturiert und das kann man diesen Fotos ganz bestimmt nicht nachsagen. Schwarz-Weiß-Fotografie kann in ihrer Formensprache so eindringlich sein, dass man beginnt, die Bilder mit den Augen Zeile für Zeile abzutasten, damit einem kein Detail, keine Korrespondenz der Formen und Linien entgeht: So aufmerksam schaut man nicht auf die eigene Umgebung, solches können die eigenen Augen nicht sehen. In Schwarz-Weiß zeigt sich die Welt in einer Übersetzung, deren Unerbittlichkeit und Sichtbarkeit oder aber auch zart möglichstes Werben um die ?Schatten der Wirklichkeit? vor und mit der Kamera und in der Dunkelkammer entschieden werden. Hier kann auch ein von dieser überschaubaren, auf Erfahrung und Fingerspritzengefühl beruhenden Technik begeisterter Europäer seine magischen Erlebnisse haben und den Betrachter mit seinen Bildern daran teilhaben lassen.

Rede zur Ausstellungseröffnung im Goethe-Institut Frankfurt. 18.03.2010