Fotografien lenken den Blick des Betrachters – allerdings weniger denn je auf Ereignisse der Vergangenheit als hin zu einer anderen Anschauung des Gegebenen. Wie selbstverständlich wird ihnen (gerade auch von Schriftstellern) zunächst einmal visuelle Evidenz zugesprochen. Aber bereits im folgenden Schritt wird ihnen dieses Vertrauen wieder entzogen: Fotografien fordern zur Überprüfung auf. Man möchte wissen, ob die Botschaft, die das Gezeigte so körperlich plastisch zu vermitteln vermag, auch mit rechten Mitteln zustande gekommen ist. Hat man sich womöglich zu der Meinung verführen lassen, etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, was doch ’nur‘ auf dem Bild existiert?
Geheimes Wissen
Aber steht nicht die europäische Malerei in der Tradition des durch (geometrische wie optische) Projektion verführten Blickes? Man geht davon aus, dass Maler wie Canaletto und Vermeer die Camera obscura eingesetzt haben, um mit dieser optischen Hilfe über die perspektivische Konstruktion hinauszugelangen. Um 1900 taucht diese Vermutung auf, aber im Prinzip wird schon von Joshua Reynolds im 18. Jahrhundert der Gedanke an den Einsatz der Camera obscura ins Spiel gebracht. Svetlana Alpers („Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts“, Dumont) und Philip Steadman (Vermeer’s camera. Uncovering the truth behind the masterpieces, Oxford University Press) legen dies – in ihren von Künstlern wie David Hockney und Hiroshi Sugimoto – aufgegriffenen Studien dar. Hockney und Sugimoto agieren auf unterschiedliche Weise: Hockney untersucht die Werke alter Meister auf den möglichen Einsatz optischer Hilfsmittel, Sugimoto stellt den Blickpunkt des Malers mit seiner Kamera nach. Beim Blick hinter die Kulissen realistischer Darstellung in der europäischen Malerei stößt der Amerikaner Hockney auf Vorstufen des Mediums Fotografie, das lange Zeit als unbestechliche, aber doch künstlerisch minderwertige Abbildungstechnik behandelt worden ist. In Diskussion mit dem Kunsthistoriker Martin Kemp und mit Charles Falco, der auf dem Gebiet der Optik forscht, hat Hockney eine Fülle visueller Belege für den Einsatz von Linsen und konkaven Spiegeln in der realistischen Malerei seit dem 15. Jahrhundert zusammengetragen und sie unter dem Titel „Geheimes Wissen“ („Geheimes Wissen. Verlorene Techniken der alten Meister“, Knesebeck) veröffentlicht. Der Einsatz dieser Apparate ermöglichte den großen Umbruch in der Malerei, so Hockney, der sich hier sowohl auf sein Auge als auch auf verstreute Bemerkungen in zeitgenössischen theoretischen Schriften von Giambattista della Porta, Leonardo und anderen berufen kann. Um 1500 ist eine wie aus dem Leben gegriffene Darstellung von Gesichtern, Gläsern, kostbaren Stoffen, auf deren Faltenwurf sich das Licht bricht, möglich. Man kann bald auch so schwierige Probleme lösen wie die perspektivisch und malerisch überzeugende Wiedergabe von Landstrichen und Schriftzügen auf der gewölbten Oberfläche von Globen. Hockneys Argumentation ist schlüssig im Einzelnen, hat allerdings den Schönheitsfehler, dass von Seiten der Maler keine schriftlichen Dokumente zu ihrem Vorgehen hinterlassen wurden. Auch wurde sie nach der Veröffentlichung von einem amerikanischen Physiker, der sich mit Optik beschäftigt (David G. Stork) vehement angezweifelt. Interessant ist die im Buch abgedruckte Diskussion zwischen Kunsthistoriker und Künstler. Martin Kemp hält große Stücke auf die visuellen Belege und die experimentellen Forschungen Hockneys, der sich als Maler und Zeichner zutraut einschätzen zu können, was mit dem Auge zu sehen und aus der Erinnerung festzuhalten möglich ist, und was nur mit Hilfe optischer Gerätschaften gesehen werden kann. Dennoch mahnt der Kunsthistoriker an, nicht einfach von einem geheim gehaltenen Wissen auszugehen. Noch einmal richten Hockneys Enthüllungen das subtile und lange Zeit umstrittene Verhältnis von purer Malerei (mit nichts als Idee, künstlerischer Vision, Auge und Hand im Gepäck) und instrumenteller, mit optischen Hilfsmitteln wie Linsen, Kamera und Spiegeln zustande gekommener „Aufzeichnung“ neu aus. Nach Hockney ist der Einsatz von optischen Gerätschaften nicht vereinzelt, sondern im großen Stil betrieben worden. Aus Angst vor der Inquisition, die naturwissenschaftlichen Kenntnissen äußerst feindselig gegenüberstand und aus dem ebenfalls verständlichen Wunsch seine ‚Werkstattrezepte‘ nicht weiterzugeben, seien diese Verfahren geheim gehalten worden.
Hockney hat sich im übrigen der Fotografie als ‚Beweismittel‘ bedient: Eine große Bilderwand (‚The Great Wall‘) im Atelier, welche „die Geschichte der Malerei vom 15. bis zum 19. Jahrhundert ausbreitete“ ermöglichte ihm Vergleiche.
Der Fotograf des 16. Jahrhunderts
Hiroshi Sugimoto, der in Japan geboren ist und in Amerika seine Wahlheimat gefunden hat, treiben ähnliche Erkundungen und Schlüsse in eine postmoderne Spirale hinein: In Wachsfigurenkabinetten innerhalb und außerhalb Europas fotografiert er Figurengruppen, die Schlüsselwerke der europäischen Malerei nachstellen wie Leonardos „Abendmahl“ oder Vermeers „Musikstunde“ (Porträts, Hatje Cantz). Bei letzterem baut er seine Kamera da auf, wo er meint, dass die Staffelei des Malers gestanden haben muss, der mit dem unbewaffneten Auge oder, wie man bei Vermeer annimmt, mit der Camera obscura auf die Szenerie blickte. Sugimoto verwendet dazu ein Objektiv, dessen Blende der Öffnung der Camera obscura entspricht. Der Fotograf stellt den Blick des Malers nach: Er hat aber nicht ein Tafelbild vor sich, dessen Geheimnis er sich zu erforschen aufmacht, sondern eine in Wachs nachgebildete, im Raum arrangierte Szene. Im Falle Vermeers geht die Rekonstruktion jedoch nicht schlüssig auf: Ein Cello und ein Stuhl sind auf Vermeers „Musikzimmer“ zu sehen, nicht aber im Wachsfigurenkabinett. Wie der Blick durch die Kamera zeigt, nachdem Sugimoto die Gegenstände besorgt hat und sie aufbauen möchte, passen sie nicht beide in die im Museum nachgebaute Kammer hinein. Vermeer nahm sich die Freiheit, zwar mit der Camera obscura zu arbeiten, um der Komposition willen aber dann über das Gesehene hinauszugehen, lautet Sugimotos Befund. Sein Kommentar ist schwindelerregend und das Mediencrossover kaum durch theoretische Begrifflichkeit einzuholen: „Die komprimierten Bild- und Realitätsschichten sind ausschlaggebend für die Wirkung dieser Werke. Es ist eine Realität, die im 16. Jahrhundert beginnt und dann als Imitation der Vergangenheit in die Gegenwart eintritt. Eine Art endloser Kreislauf, und ich wollte der erste Fotograf des 16. Jahrhunderts sein.“
Ein posthum beauftragter Fotograf
Als Fotograf des 19. Jahrhunderts betätigt sich Elger Esser, der Orte an der normnannischen Küste fotografiert („Cap d’Antifer-Étretat“, Schirmer/Mosel). Sie sind durch das Auge renommierter Malern gesehen worden (z. B. Schirmer, Courbet und Monet – Sugimoto begab sich für eine Aufnahme aus der Serie „Seascapes“ an die Stelle, von der aus Monet „Étretat soleil couchant“ malte). Aber sie sind auch mit den Worten eines bedeutenden Schriftstellers erfasst worden. Flaubert, der in den 50-er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Fotografen Maxime du Camp (recht unwillig) Ägypten bereiste, bittet Maupassant in den 70er Jahren für eine Szene in „Bouvard und Pécuchet“ um eine Schilderung des Küstenstreifens zwischen Cap d’Anifer und Étretat, der Maupassant wohlbekannt ist. Maupassant liefert eine genaue Beschreibung des von Flaubert gewünschten Abschnittes und legt einige Zeichnungen bei. Flaubert verwendet Maupassants Schilderungen dann doch nicht für seinen Roman, aber mehr als hundert Jahre später macht sich Esser auf den Weg, um Aufnahmen der von Maupassant so genau beschriebenen Stellen und Einblicke anzufertigen, die den Geist Maxime du Camps zu atmen scheinen. Esser wird hier zum posthumen, zum ’nachbeauftragten Fotografen‘. „Das Komische der Ideen“ zu schildern, sei Zweck seiner unvollendet gebliebenen, zeitgenössischen Satire über die beiden Hobbywissenschaftler „Bouvard und Pécuchet“, schreibt Flaubert in einem Brief. Ist das Projekt Essers ein später, augenzwinkernder Reflex auf Flauberts Praxis als Realist, der zwar zur Recherche für seine Wissenschaftssatire keinen Fotografen beauftragt, sondern lieber auf die Worte eines mit der Umgebung vertrauten Schriftstellers als Gewährsmann zurückgreift – dann aber das eigens bestellte Material doch ungenutzt liegen lässt?
Esser begibt sich hier mit der Kamera an einen „verschmähten“ Schauplatz der Literatur, ohne jedoch explizit von sich zu behaupten, er selbst erzähle Geschichten. Und das ist auch gut so: Fotografien haben gerade da ihre Stärke, wo der Schreibende an eine unsichtbare Grenze gelangt, weil seine Figuren und Landschaften zwar für den Leser gegenwärtig, ja sogar anwesend, aber doch nicht zu sehen sind. Während das, was die fotografischen Bilder zeigen, zwar mit eigenen Augen zu sehen ist, aber der Vergangenheit angehört. Kann man sich deshalb in ihrer Gegenwart so gut auf sich selbst besinnen, die eigenen Handlungsmöglichkeiten erkennen und womöglich den Wunsch einzugreifen?
Verschobene Haltungen
Was passiert, wenn Fotografen mit diesen Überlegungen spielen, indem sie Positionen anderer Menschen nachstellen und noch einmal zu sehen geben, was längst (Kunst)- Geschichte geworden ist, lässt sich nicht nur an Cindy Shermans postmodernen Verwandlungsspielen mit der Geschlechtsidentität ablesen. Künstler und Fotografen steigen auch ins Bild, um mit dem eigenen Körper das Spiel von abwesend sein und doch gesehen werden, über die Grenzen hinauszutreiben: provokativ, verunsichernd, mit Empathie und Kalkül. So Anselm Kiefer, der in den späten Sechziger und frühen Siebziger Jahren – als Ironie im Umgang mit der deutschen Vergangenheit noch mehr als verpönt war – mit ausgestrecktem Arm in symbolbeladenem Umfeld eine Haltung persifliert, die zwischen deutschem Gruß und der Imperatorengeste liegt („Heroische Sinnbilder“, Schirmer/Mosel). Die Beine sind oft gekrätscht und stecken in Pluderhosen, die Füße in Schaftstiefeln, aber auch schon mal in Sandalen, flatternde Haare, so gar nicht militärisch und auch nicht imposant, konterkarieren das Ganze: Ein Spätgeborener setzt sich hier ins Bild.
Aber diese nachgestellte Haltung ist – wie auch bei Sugimoto, Esser und in gewisser Hinsicht auch den Studien Hockneys – verschoben: um Jahrzehnte, um Jahrhunderte, um den Blick des Künstlers, um den Blick des Betrachters, der vor diesen Fotografien, vor dieser Malerei steht und sich fragt, wo die medial vermittelte Vergangenheit anbricht und wo die Gegenwart aufhört.
zuerst erschienen: Neue Zürcher Zeitung 13. Februar 2010