“Stillleben nach dem Exodus. Wehrkirchen in Siebenbürgen” fotografiert von Peter Jacobi

13Einführung zur Ausstellung. Ausstellung vom 6. Dezember 2009 bis 22. Januar 2010 Gasteig München

Meine Damen und Herren, lieber Peter Jacobi,
Was haben wir weitergegeben, was wollen wir weitergeben, was dürfen wir weitergeben? Peter Jacobis Fotografien schaffen für solche Überlegungen Raum. Die Frage nach Bewahren und Verschwinden ist zur Existenzfrage der Moderne geworden, und dies nicht erst seit heute. „Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“, notierte Cézanne 1905 in sein Tagebuch. Nicht nur Landschaften und Lebensformen, auch Gebrauchsgüter unterliegen dem Sog des Verschwindens und es sind oft Künstler, die als erste mit ihren Arbeiten auf drohende Verluste aufmerksam gemacht haben: Peter Handke beispielsweise reiste in den Neunziger Jahren nach Spanien, um dort nach Musikautomaten, den Jukeboxen, Ausschau zu halten, die zu diesem Zeitpunkt längst aus heimischen Gastwirtschaften verschwunden sind. Der Filmregisseur Wim Wenders dokumentierte in seinem Film „Im Lauf der Zeit“ (1976) Lichtspieltheater im Zonenrandgebiet, da das Kinosterben in den siebziger Jahren die Dorfkinos erfasst hatte. In den abrissfreudigen sechziger und siebziger Jahren schärften Bernd und Hilla Becher mit nüchtern wirkenden Fotografien das Auge für die architektonischen und plastisch-skulpturalen Qualitäten von industrieller Gebrauchsarchitektur. Bei Kirchen, die ganz selbstverständlich – ohne dass es spezieller Erklärungen oder eines besonderen Blicks bedarf, zum Kulturerbe gezählt werden, hinterlässt die Bedrohung durch das Verschwinden eine weitergehende Verunsicherung als dies bei Jukeboxen und Getreidesilos oder Wassertürmen, die von vornherein nur zu temporärem Gebrauch bestimmt sind, der Fall sein mag. Mit den verlassenen Kirchen ist das Zentrum einer Gemeinschafts- und Lebensform verschwunden, die neben dem geistigen Band, zusätzlich an einen bestimmten Raum gebunden, und damit anders als Konsumprodukte auf eine spezifische, einmalige Weise auch „geerdet“ war. Architektur lebt von ihrem Gebrauch, der sich allerdings im Lauf der Zeit auch verändern kann oder sogar verändern muss: Aus einstigen Kulträumen können Versammlungsorte, Galerien, Ateliers, ja sogar Restaurants und Tanzsäle werden. Festzuhalten, was in einem bestimmten Augenblick, zu einem privilegierten Zeitpunkt zu sehen ist – und das darüber hinaus eine imaginäre Tiefendimension erschließt, ist das Verdienst der Fotografie. Wie kein anderes Medium thematisiert Fotografie immer wieder von Neuem die Maßverhältnisse der verstreichenden Zeit.
An Transsilvaniens dörflichen Burgkirchen, die – nach der Aussiedlung vieler Rumäniendeutscher aus Siebenbürgen in den neunziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts – vom Verfall bedroht sind, lassen sich die „Maßverhältnisse der Zeit“ besonders eindrücklich studieren.

„Dies ist eine der schönen Eigenthümlichkeiten der landschaftlichen Scenerie Siebenbürgens – sie bietet unablässig Abwechslung. Der Reisende kommt immerfort aus einem Thale in das andere und fortwährend öffnen sich neue Aussichten vor ihm. Dieselben sind fast immer durch waldbekränzte Hügel oder durch bedeutendere Höhen begrenzt und man hat so seine kleinere oder größere Welt vor sich. Doch jetzt geht es einen sanften Hügel hinauf oder der Weg windet sich um ein in die Landschaft hereinragendes Vorgebirge herum: die Welt von eben liegt hinter Euch und eine neue liebliche, von der früheren verschiedenen Szene erscheint. Das Gemüth wird rege erhalten durch den angenehmen Reiz der Erwartung, einer Erwartung, welche sich selten getäuscht findet“ so beschreibt der englische Schriftsteller Charles Boner im Jahr 1863 das Panorama der Landschaft Siebenbürgens und das Bild von Hirten, die mit großen Herden durch das Land ziehen, ist, wie Annemarie Schenk schreibt, zum Charakteristikum der Siebenbürgischen Landschaft geworden.

Peter Jacobis Fotos zeigen keine intakte, sondern eine im Verschwinden begriffene, bäuerliche Kultur. Im Korn stehende Weizen- und Hopfenfelder und die idyllische Lage mancher Kirche, die an die Reisebeschreibung Boners erinnern, lassen an den Schmelz der Septembersonne denken, deren Kraft bereits nachgelassen hat: Lebens- und Glaubensanschauungen einer Gemeinschaft, die sich stets in einem multikulturellen Spannungsfeld bewegte und vielleicht gerade deshalb besonders traditionsbewusst lebte, sind im Zwanzigsten Jahrhundert tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Wie in allen europäischen Ländern haben Industrialisierung und Abwanderung in die Städte ihre Spuren hinterlassen, Kollektivierung der Landwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg, Ceausecus erbarmungslose Modernisierungsmaßnahmen und verschiedene Auswanderungswellen kommen dazu. Die Architektur legt davon ein stummes, aber doch aussagekräftiges Zeugnis ab. Die Kirchen boten nicht nur spirituell, sondern auch ganz konkret mit ihren Gebäuden während wechselnder politischer Herrschaftsverhältnisse eine stabile Infrastruktur – und dazu gehörten die Specktürme, in der die Gemeindemitglieder ihren gesalzenen und luftgetrockneten Speck aufbewahren und vor fremdem Zugriff schützten, ebenso wie der deutschsprachige Unterricht für die Kinder. Peter Jacobis Fotografien der Kirchen im Gebiet um Sibiu/Hermannsstadt geben den einst gepflegten, heute heruntergekommenen Gebäuden mit behutsamer Lichtmodulation und plastischer Formkraft ein Stück ihrer Würde zurück. Zugleich zerren sie ein Stück des Dramas verflossener Geschichte in die Gegenwart hinein. Wir sehen das, was bleibt, wenn Kultur ohne pflegenden Eingriff dem Wirken der Natur überlassen wird: Dachstühle zerfallen, Holzböden vermodern, Gras wächst zwischen den Ritzen, Unkraut wuchert, beständig schreitet das Werk der Natur voran, so sich ihr nicht die Arbeit des Menschen entgegenstellt. Immer fragiler werden dessen Spuren, aber auch immer ungesicherter, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt noch davon sehen können: Über einer schon sehr ramponierten Altarmensa zum Beispiel wurden auf einem hölzernen Rahmen zwei Stoffstücke zurückgelassen, das eine ist stark verwittert und ein zerschlissenes Altarbild auf Leinen, auf dem anderen ist ein eingewebtes weinrotes Zierband zu sehen. Dieser Lappen, der sorgsam glatt gestrichen – und wie nach dem Putzen zum Trocknen ausgebreitet – daliegt, wird zum Statthalter einer winzigen Hoffnung, als wäre eine pflegende Hand hier noch einmal tätig gewesen, hätte den Ort vor nicht allzu langer Zeit berührt und würde sich auch weiter kümmern. Tatsächlich aber handelt es sich hier – im Gegensatz zu den anderen Fotos, die Vorgefundenes zeigen, so wie es vor Ort gegeben war, um ein Zufallsarrangement Jacobis, der die alten Lappen auf dem Rahmen ablegte. Das Foto ist eines der anrührendsten und beweist einmal mehr, welche ästhetische Überzeugungskraft Fotografie entfalten kann, indem sie nicht nur von dem erzählt was ist, sondern auch von dem, was fehlt. Einige Fotos zeigen nicht nur temporäre, schwache Zeitzeugen, sondern besonders standhafte, wie etwa eine Spolie, eine römische Löwenskulptur, die in eine Fassade eingelassen wurde. Die Kirchen, die in diesem Kulturraum errichtet wurden, sind bis zu achthundert Jahre alt, wohl bald nach 1200 entstandene romanische Kirchen, die als dreischiffige Basiliken mit halbkreisförmiger Apsis und flachem Dach im Hauptschiff und flachen oder auch gewölbten Seitenschiffen konzipiert wurden.

Sie wurden jedoch immer wieder umgebaut oder um Anbauten erweitert. Mitte des 14. Jahrhunderts werden in den Städten große gotische Stadtpfarrkirchen errichtet. Mit ländlichen Anverwandlungen dienten sie den Dorfkirchen als Vorbild, seit dem 13. Jahrhundert werden die Kirchen mit einer Ringmauer umfasst.
Die Siebenbürgischen „Sachsen“, die, folgt man vergleichenden Sprachstudien, wohl vor allem aus den Erzbistümern um Trier, Köln und Luxemburg kamen, wurden Mitte des 12. Jahrhunderts als Siedler mit politischen und persönlichen Freiheiten und Privilegien geworben, um das damals noch dem Königreich Ungarn unterstehende Altland um Hermannstadt in eigener Regie zu bewirtschaften – zu einem Zeitpunkt als der mittelalterliche Bauer in der Regel hörig, oder in persönlicher Abhängigkeit vom Grundherren wirtschaftete. Man nimmt heute an, dass die einheimischen Szekler zugunsten der Einwanderer umgesiedelt wurden, der ungarische König versprach sich von den Neusiedlern besondere Loyalität und von ihrer Arbeitskraft und ihrem Können wirtschaftliche Entwicklung der Region. Weitere Besiedlungswellen und eine Ausweitung der Gebiete folgten. Die aus Deutschland gekommenen Siedler gehörten nach der Reformation hauptsächlich protestantischen Gemeinden an (sie sind mehrheitlich „evangelische Christen Augsburgischen Bekenntnisses“): Reisende Kaufleute hatten die Schriften Luthers von der Leipziger Messe aus Deutschland mitgebracht und ein Großteil der Siedler schloss sich der neuen Lehre an. Ein ordentlicher, streng gläubiger Geist scheint auch aus den Fotos der noch erhalten gebliebenen Räumen der Gemeinde zu sprechen, seien es Andachtsräume oder die gute Stube des Pfarrers. Man muss sich die Wehrburgen – nach dem Einfall der Türken im Jahr 1430 wurde ein Großteil der Kirchen befestigt – als Gemeinwesen im Kleinen vorstellen, hinter dessen Mauern das ganze Dorf zeitweilig untergebracht wurde. Es gab einen Brunnen, Schlafgelegenheiten, geschützte Feuerstellen, Vorratskammern, den Speckturm und nach Möglichkeit auch einen Raum, in dem die Kinder unterrichtet werden konnten.

Wollte man ein wenig systematisieren, so ließen sich die mehr als zweitausend Aufnahmen Jacobis, die dokumentarische und ästhetische Absichten verfolgen und von denen nur ein kleiner Teil hier gezeigt werden kann – zum Großteil aber anlässlich dieser Ausstellung auf einer CD zusammengestellt sind – in verschiedene Abteilungen gliedern: Außenaufnahmen des Baukörpers, Fassaden, Dachstühle, Gewichte der Turmuhr, Glockenseile, Gewölbe, Schrifttafeln, Kirchenbänke, zerstörte Orgeln, aber auch Vorratstruhen, Speckkammern, Spuren der durch vorübergehend eingezogene Gäste herbeigeführte Umnutzungen. Dazu kommen Porträts der noch verbliebenen „Burgwächter“, den Menschen, die sich nach Kräften um die Pflege des noch Vorhandenen kümmern und einige Fotos restaurierter oder durch orthodoxe Gemeinden übernommener Kirchen. Man könnte aber auch nach ganz anderen Kriterien systematisieren und zum Beispiel sein Augenmerk auf die Stoffe richten. Als gewebte Tischdecken, Stickereien, Fahnen, als Lumpen, die zur Abdichtung im Gebälk verstaut sind, als Vorhänge, als bunt gemusterte Kleider der Bäuerinnen oder auch als kunstvoll gewebte Trachten erzählen sie eine eigene Geschichte des Häuslichen. Es ist eine Geschichte, die von Intimität, von der Freude am Schmuck, am Gestalten und am Rhythmus des Alltags Zeugnis ablegt. Kulturell aufgeschlossene Stickerinnen ließen sich von geometrischen Mustern inspirieren, die auf orientalischen Stickereien und türkischen Orientteppichen zu sehen waren – für das Jahr 1503 weiß man, dass in Kronstadt 509 Orientteppiche beim Zoll registriert wurden und auf dem Abendmahlstischtuch von Hermannstadt aus dem Jahr 1615 findet sich ein Stickmuster orientalischer Herkunft. Die Frauen sahen die Teppiche in ihren Kirchen, wo sie das Kirchengestühl schmückten.

Man kann aber auch das kunstgeschichtlich erzogene Auge den überaus reizvollen Arrangements überlassen, die durch die Rückverwandlung von Kultur in Natur entstanden sind und von Blick und Kamera des Fotografen in Form gebracht wurden: Da gäbe es dann eine „afrikanische“ Abteilung, in der vom Dach hängendes Seilwerk oder die Gewichte einer Turmuhr wie eine archaische Skulptur oder eine Maske anmuten. Auf anderen Fotos liegen Gewichte für das Uhrwerk verstreut auf dem Boden einer Kammer, sie könnten auch einer Installation aus dem Zwanzigsten Jahrhundert entnommen sein. Auf einem Dachboden findet sich eine schon recht verwitterte historische Schneiderpuppe mit einer Fechtmaske anstelle des Kopfes. Als handle es sich um realen Surrealismus wird ihre Anwesenheit mit einer sepiabraunen Porträtfotografie eines Mannes im Sonntagsstaat beglaubigt, die in einen Rahmen gefasst neben der Puppe lehnt. Oder wir sehen Statuen, die neben den Bänken eines kargen Kirchenraums am schmalen Durchgang entlang der Wand postiert wurden. Sie sind alle mit dem Oberkörper zum Chor hin ausgerichtet, sodass man den Eindruck bekommt, sie würden, die größte von ihnen vorneweg, gleich zu einem Marsch auf den Altar ansetzen.

Ästhetisch betrachtet bedeutet das, dass hier Environments entstanden sind, gleichermaßen vom Zufall wie von Auge und Kamera des Fotografen geschaffen: Schon die Aufnahmen, die das erste Fotografiebuch „The Pencil of Nature“ enthält, das William Henry Fox Talbot in den Jahren 1844-1846 publizierte, zeigen temporäre Konstellationen und Arrangements aus dem Alltag, die für den späteren Betrachter aus dem Lauf der Zeit visuell herausgenommen und auf die Platte gebannt wurden. Kurze Zeit darauf werden sie schon wieder ganz anders ausgesehen haben.

Dem Verlassenen haftet eine eigene Präsenz und Symbolkraft an. Das musste diejenigen, die einen Ort aufgegeben haben, um gen Westen auszuwandern, angesichts des Blicks auf eine erhoffte, glanzvollere Zukunft nicht kümmern. Ein Lehrer zum Beispiel hat in seiner Wohnung Bücher zurückgelassen, sie liegen verstreut mit ihren bunten Einbänden auf dem Boden, die Unordnung wird er wohl nicht selbst verursacht haben, so ist es ein verschmähtes Erbe. Eine besondere symbolische Dimension bekommt das Foto, wenn man weiß, einen wie hohen Stellenwert historisch der Bildung eingeräumt worden ist; in Kronstadt gründete nach der Reformation der Humanist Johannes Honterus das erste humanistische Gymnasium in Ostereuropa. Das Vermögen der aufgelassenen Klöster wurde jetzt in die Bildung investiert, allen Jungen, auch solchen aus einkommensschwachem Elternhaus sollte der Besuch einer Schule ermöglicht werden, wie andernorts ist von der Ausbildung der Mädchen allerdings auch hier nicht die Rede.

Auf einem weiteren Foto ist ein aufgeklappter Koffer zu sehen, er birgt wild aufeinander geworfene Gabeln, die, so die Bildunterschrift, vom Abschiedsfest der Auswanderer zurückgeblieben sind. Der Koffer steht offen und kann allein schon deshalb keine Zeitkapsel sein, in der alles unberührt für die Nachkommen erhalten geblieben ist: Deutlich sichtbar ist die Zeit vorangeschritten und hat ihr Zerstörungswerk verrichtet. Bücher und Besteck, geistige wie weltliche Nahrung, beides in wüste Unordnung gebracht, oder auch durch Vandalismus beschädigte Orgeln, die einem auf Jacobis Fotos wie kranke Tier anzublicken scheinen, werden kontrastiert mit Bildern einer einfachen, klaren Ordnung. So gibt es zum Beispiel die Aufnahme eines kargen Andachtsraumes, in dem Kultgegenstände, Möbel und Schmuck streng geometrisch angeordnet sind, nur die farbenprächtigen Stoffe der Kissen auf den Holzbänken tanzen ein wenig aus der Reihe. Auf einer anderen Fotografie sehen wir die verlassene, unangetastet gebliebene Wohnung eines Pfarrers: ein Holztisch, auf dem als einziger Schmuck ein gewebtes Tischtuch aufliegt, zwei Stühle, ein Kachelofen, eine dezent gemusterte Tapete. An der Wand keine Bilder, stattdessen gibt es einen schlichten Spiegel und eine karge Garderobe, an der noch die schwarze Robe des Pastors hängt, so als sei er nur eben einmal hinausgegangen und kehrte bald wieder zurück. Ein weiteres Bild zeigt das Fenster einer Dorfschänke: Ein weiße, maschinengefertigte Spitzengardine mit floralem Muster schützt den Trinker vor zudringlichen Blicken, statt Blumentöpfen sehen wir im Fenster in gleichmäßigem Abstand aufgestellt Flaschen mit den zum Ausschank angebotenen Alkoholika. Der hölzerne, in hellem lila gestrichene Fensterrahmen wirkt wie ein Bilderrahmen, in den Fensterscheiben spiegeln sich ein paar Wölkchen, die vorüberziehen.

Der Wunsch, Räume außerhalb des Gewöhnlichen zu schaffen und zu gestalten, seien es private, seien es öffentliche Räume ist eine verbindende menschliche Praxis. Sie berührt zentrale Momente des Selbstverständnisses dessen, der sich seiner Herkunft und Geschichte vergewissern möchte. Unwillkürlich senkt man erst einmal die Stimme, spricht leiser als sonst, gedämpft als befände man sich tatsächlich in einer Kirche, wenn man als Betrachter vor diesen Bildern steht und sich über das, was man sieht und empfindet, austauscht. Die Zerbrechlichkeit der Welt steht einem vor Augen, der eigenen wie der fremden, das stets nur Vorläufige der Geschichte. Was möchte man hinterlassen, was sollte man hinterlassen, was möchte man weitergeben?

Räume und Menschen bieten sich gegenseitig Schutz. Das wird deutlich, wenn man sich die Fotografien der „Burgwächter“ anschaut, die sich, so gut es eben geht, um den Erhalt der Kirchen kümmern, die einst den Dorfbewohnern Schutz und Halt bedeuteten. Das sind meist schon sehr betagte Menschen, aber manchmal sind auch Jugendliche darunter. Welch einen Unterschied es macht, ob sie mit ihren schrill bedruckten T-Shirts vor einem ausgeraubten Altar stehen oder ernst und ihrer selbst gewiss vor einem Gotteshaus postieren, das sie betreuen, lässt sich den Bildern entnehmen. Eine alte Frau präsentiert stolz und in einer Haltung als handle es sich um das Schweißtuch der Veronika oder einen gerade gefangenen Hecht ein tiefgrünes Tuch: „Gottes Wege sind wunderbar“ ist darauf in golden gestickten Lettern zu lesen. Nicht immer sind die Sinnsprüche und Bibelzitate so heiter wie dieser, einmal ist auch in einem Kirchenraum ein handgemaltes Pappschild zu sehen, eine Spruchtafel für den Gottesdienst, auf der steht: „Ja, zum Tode am Kreuz“.
Vieles, was, in den verlassenen oder nur notdürftig unterhaltenen Kirchen oder in Räumen der unmittelbaren Umgebung, die Jacobi auch zeigt, zu sehen ist mutet heute archaisch an: Ein Raum, in dem gesalzene Speckstücke zum Trocknen am Gebälk hängen, Vorratstruhen für das Korn, die wie Sargopharge anmuten, aber auch die Gewichte für Turmuhren und Glockenseile, die heute an Environments erinnern mögen, standen einst in einem klar umrissenen Funktionszusammenhang. So faszinierend dem heutigen Betrachter, dessen Auge von den Werken der Künstler des Zwanzigsten Jahrhunderts erzogen wurde, diese Relikte und Hinterlassenschaften erscheinen, die unbehauen und authentisch wirken, so klar muss doch bleiben, dass diese Schönheit den Blick aus der Distanz voraussetzt. Restaurieren und bewahren ist wie vieles andere ein Spiel mit dem Feuer: Bis wohin akzeptieren wir das stetig voranschreitende Werk der Zeit, wo greifen wir ein? Lässt sich eine Lebensanschauung, eine im Untergang begriffene kulturelle Praxis konservieren oder sollte sie neu erworben und mit neuem Leben erfüllt werden, das sich vielleicht grundlegend von der bisherigen Nutzung unterscheidet? Für den Einzelnen sind solche Fragen zu bestimmten Zeitpunkten seiner Biographie Lebensfragen, für die er je nach der Geschichte seiner Herkunft, unterschiedliche Antworten finden wird. Im Exil sehen die Dinge anders aus als von zuhause aus betrachtet, nach langer Abwesenheit anders als wenn einer nie aus seinem Dorf heraus gekommen ist. Auch bei einer Fotografieausstellung ist es eine Frage des Kontextes ob man das „Verschwinden der Dinge“ dokumentiert, ob man es beklagt, oder in einen neuen, ästhetischen Kontext stellt oder nach Wegen sucht, Lebenswirklichkeit und Bilder aufeinander zu beziehen.
Jacobis Projekt steht in einem weit gefassten Kontext: Es ist ein Inventarisierungsversuch, der mit „Herzblut“ gemacht, aber auch von einer souveränen ästhetischen Position aus unternommen wurde. Peter Jacobi, 1935 in der Stadt Ploiesti in der Nähe von Bukarest geboren, studierte an der Kunstakademie Bukarest Bildhauerei und ist 1970 nach der Teilnahme an der Biennale in Venedig nicht wieder in das Rumänien Ceausescus zurückgekehrt, sondern bekleidete von 1971-1998 eine Professur für Bildhauerei an der Fachhochschule Pforzheim. Seine Ausstellungen und Projekte sind auf internationaler Ebene angesiedelt: Nicht nur in großen europäischen Museen, sondern auch im „National Museum of Modern Art“ in Kyoto, im New Yorker „Art and Craft Museum“ und in der „City Collection“ von China und in Sydney in der „Power Gallery of Contemporary Art“ werden seine Werke gesammelt. Jüngstes vollendetes Projekt und nach eigenem Dafürhalten „das wichtigste Projekt seines Lebens“ ist das Holocaust-Denkmal in Bukarest, das am 8. Oktober 2009 eingeweiht worden ist.

Als Bildhauer arbeitet Jacobi mit stabilem, auf langes Bestehen hin ausgerichteten Material wie Bronze, Gusseisen, Stahl und Stein. Und doch muss er gewärtig sein, dass Witterungsbedingungen, veränderte Kontexte im umgebenden Raum an der Rezeption seines Werkes und an der Oberfläche des Objektes selbst im Verlauf der Zeit „mitarbeiten“. Bei Jacobis Skulpturen besticht die Spannung, die zwischen den aufeinandergeschichteten Modulen und einer Bewegung aufgebaut wird, welche, als dirigiere sie ein unsichtbarer Choreograph, die eigentlich statischen Objekte zu durchlaufen scheint: Ein elementares Formenrepertoir wird so geschaffen, das in den umgebenden Raum hineinwirkt. An den aufgelassenen Kirchenräumen fasziniert den Bildhauer das Spiel von Abwesenheit des Kultes, Abbruch und Auszeit der Geschichte und die trotzdem ungebrochene Präsenz der verbliebenen Räume und Objekte. Nicht ins Pittoreske abzugleiten – das ist eine Gratwanderung, die bei solchen Themen für die Fotografie seit Thomas Annans Glasgower Ansichten (1878) immer zu bestehen ist. Der Fotograf Jacobi verdankt seine Trittfestigkeit auf diesem schwierigen Terrain auch der Arbeit an der Form, die das täglich Brot des Bildhauers Jacobi ausmacht.

Wie sehr Fotografen ihre Kunst der Bildauffassung einsetzen können, um auf Handlungsbedarf aufmerksam zu machen, das hat besonders eindrucksvoll und im ganz großen Maßstab das FSA-Projekt zur Dokumentation der Situation der Landarbeiter im Amerika der Dreißiger Jahren gezeigt, als ein Trupp von Fotografen das Land bereiste, um die harten Lebensumstände der Farmer fotografisch festzuhalten. Die – von der amerikanischen Regierung in Auftrag gegebene – Studie erhielt viel Aufmerksamkeit und hat einiges bewirkt. Jacobi bereiste nach seiner Pensionierung in den Jahren 2004/2005 auf eigene Faust die Dörfer Transsilvaniens, um die Kultur dieses – ihm persönlich vertrauten – Landstrichs, die sich mit dem politischen Wandel und dem Auszug eines Großteils der deutschen Bevölkerung aus dem Gebiet im Umbruch befindet, zu erfahren und zu dokumentieren. Mit seinem ästhetischen Ansatz ergänzt seine Arbeit bereits vorliegende Publikationen und Bestandsaufnahmen.

Der rumänische Denkmalschutz hat Vieles und Beachtliches zur Restaurierung und zum Erhalt der Kirchen geleistet, Vieles musste allerdings aus Geldmangel auch unterbleiben. Die evangelische Kirche kämpft mit ähnlichen Problemen, es gibt einige Stiftungen und Projekte von Auswanderern und Freunden. 2007 hat das Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche Rumänien eine „Leitstelle Kirchenburgen“ (www.projekt-kirchenburgen.ro) als Projektbüro in Hermannstadt/Sibiu eingerichtet. Ein Programm zur Restaurierung der Kirchendächer ist im Gang, EU Fördermittel werden eingeworben, die Leitstelle versucht mit dem Aufbau einer Datenbank und Workshops einen Überblick über bereits existierende Initiativen, laufende Aktivitäten, Erfahrungsaustausch und Fachdiskussionen zu restauratorischen und bautechnischen Fragen zu ermöglichen und beratend zur Seite zu stehen: Man möchte Spender, Paten, ehrenamtlich arbeitende Fachkräfte und Jugendliche zur Durchführung von Instandsetzungsarbeiten gewinnen. Am Ende seines im Jahr 2007 erschienenen Fotobuches „Siebenbürgen. Bilder einer Reise, Wehr-und Krichenburgen“ weist Jacobi in einem Interview darauf hin, dass es notwendig sei, auch an unkonventionelle Lösungen zu denken und ungewöhnliche Partner, die neue Ideen für die Umnutzung mitbringen, anzuwerben und zu unterstützen.

Man wünscht sich, dass, Jacobis fotografisches und archivarisches Projekt weitergehende Resonanz und Publizität erreicht. Es geht bei Jacobis Bestandsaufname nicht „nur“ um verlassene Dorfkirchen und untergegangene Lebensformen, es geht um den sinnvollen, zukunftsweisenden Umgang mit dem Bestehenden für die in Rumänien lebenden Zeitgenossen und um ein Stück europäischer Kulturgeschichte, innerhalb derer – so die spezielle Tragik der Geschichte – die siebenbürgischen Wehrkirchen bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein gerade wegen ihres bis dato guten Erhaltungszustandes einen besonderen Rang beanspruchen durften.