Bernd Stiegler über Theoriegeschichte und Metaphern der Fotografie
„Wir glauben nicht länger an die Objektivität der Photographie, wohl aber daran, daß Photographien in spezifischer Weise unsere Wirklichkeit sind“, schreibt Bernd Stiegler am Ende seiner fast 500 Seiten fassenden Abhandlung zur „Theoriegeschichte der Photographie“.
Eine gründliche Aufarbeitung der Geschichte der Fotografietheorie ist längst überfällig. Schon seit mehr als 20 Jahren ist Wolfgang Kemps Sammlung historischer Essays zur Fotografiegeschichte, in den 90er Jahren ergänzt durch Hubertus von Amelunxens Anthologie zeitgenössischer Texte auf dem Markt, sie werden bei Schirmer/Mosel noch in dieser Saison wieder aufgelegt werden. In jüngster Zeit erschien bei Suhrkamp Herta Wolfs zweibändiges Kompendium mit Essays, welche die Fotografie auch im Kontext wissenschaftlicher und kriminalistischer Gebrauchsweisen reflektieren.
Dennoch wird noch immer vornehmlich die Trias von Walter Benjamin, Roland Barthes und Susan Sontag zu Rate gezogen, wenn es darum geht, Bemerkungen zur Fotografie einen theoretischen Rahmen zu geben. Traditionslinien und Topoi von 150 Jahren Fotografietheorie jenseits der kanonisierten Texte werden in Stieglers Studie kenntnisreich nachgezeichnet. Frühe Texte zur Daguerreotypie und zur Kalotypie formulieren bereits Gedankengänge, die bis weit ins 20. Jahrhundert wirkmächtig bleiben werden.
Ambivalenz
Fast alle frühen Texte nehmen ihren Ausgang im Staunen über die naturgetreue Wiedergabe der äußeren Welt, auf deren Abbild die menschliche Hand keinen Einfluss zu haben schien. Sehr früh aber zeigt sich die theoretisch kaum in den Griff zu bekommende Ambivalenz des fotografischen Bildes: es fasziniert der Vorgang der Aufzeichnung, der objektiv wie kein anderer zu sein scheint – die Fotografie ist Bild gewordener Gegenstand. Und doch ist dieses Bild, so naturwahr wie nur möglich auf die fotografische Platte projiziert und später auf Papier vervielfältigt, nichts anderes als ein Kunstprodukt, zu dessen Erzeugung ein Apparat erforderlich ist – und die Lichteinstrahlung der Sonne.
Das Sprechen über Fotografie aber ist, so Bernd Stiegler, zugleich ein Sprechen über den eigenen Blick. Welch fundamentale Auswirkungen der Diskurs über Fotografie und besonders die bahnbrechenden Momentaufnahmen von Marey und Muybridge auf die zeitgenössische Kunst hatten, ist schon öfter gezeigt worden. Besonders deutlich aber wird in Stieglers Theoriegeschichte, wie mit dem Nachdenken über Fotografie und die vorher niemals gesehenen Perspektiven und Strukturen der Bilder selbst auch die Erziehung des ‚unzulänglichen‘ Auges durch Erfahrung, Bewusstsein und Kultur in den Blickpunkt gerückt worden ist. Ambivalent, wie der Fotografiediskurs sich seit seinen Anfängen gestaltet, erschließt diese Fokussierung eine magische, unbewusste Dimension des fotografischen Bildes. Oder sie regt eine nüchterne, wissenschaftliche Bilanzierung an, über die Natur und die Verarbeitung der Sinnesdaten.
Theorie des Unsichtbaren
Dieser Wandel in der Reflexion über das fotografische Bild, vom Staunen über die objektive Wiedergabe eines Gegenstandes zum Staunen über das Sichtbarwerden des Unsichtbaren, der sich im 20. Jahrhundert allmählich abzeichnet und mit Walter Benjamin Essays einen ersten Höhepunkt erreicht, ist nicht nur mit der technischen und künstlerischen Entwicklung der Fotografie parallel zu führen. Er korrespondiert auch mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden physiologischen Forschung zur eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Auges. Das Sichtbarwerden des Unsichtbaren, das zwar nicht unserem Auge, wohl aber der Kamera zugänglich ist, trifft sich mit Helmut v. Helmholtz‘ physiologischen Erkenntnissen: „Die Sinnesempfindungen“, wie sie das Auge als farbige Fläche im Gesichtsfeld aufnimmt, „sind für unser Bewusstsein Zeichen, deren Bedeutung verstehen zu lernen unserem Verstande überlassen ist“, schreibt Helmholtz und betont damit die Übersetzungsleistung, die das Gehirn beim Wahrnehmungsvorgang vornehmen muss. Das Nachdenken über das Medium Fotografie führt zu einem ähnlichen Schluss und so lässt sich Fotografie als „Zeichenordnung parallel zur Natur“ sehen, „die als formale Ordnung symbolische Qualitäten aufweist“, wie Stiegler salomonisch formuliert. Er legt dies im Zusammenhang mit einer Serie von Wolkenfotografien („Equivalents“) von Alfred Stieglitz aus den 20er und 30er Jahren dar.
Bedenkenswert sind Stieglers Beobachtungen zu den neuesten (diskursanalytischen) Tendenzen in der Fotografietheorie. Statt vom Charakter der Fotografie wird von ihrer historischen Bedingtheit gesprochen. Sie erscheint als Instrument der Normierung des Blicks, orientiert an Foucaults Analyse der Machtstrategien. Gerade Foucault aber hatte angesichts der Fotografie von ihrer archaischen Kraft geschwärmt, einem zügellosen „Fest der Bilder“.
Album
Ein „Fest der Bilder“ gilt es dann in Stieglers bei Suhrkamp erschienenem Buch, dem „Album photographischer Metaphern“ zu feiern. In mildem, erzählerischen Licht und alphabetischer Reihenfolge geben sich hier die einander widersprechenden Metaphern zur Fotografie ein Stelldichein, denen man zuvor in der strengeren Zucht der Theoriegeschichte begegnet ist. Immer gibt es als Blickfang eine Fotografie, die den Eintrag in das Album einleitet – allerdings auf grobem Suhrkamp-Papier gedruckt, so dass die Augenlust sich in Grenzen hält. Phantasmen und Utopien, Ängste und Verheißungen stehen neben einander. Unter dem Stichwort „Archiv“ begegnen sich Vilém Flusser und Oliver Wendell Holmes als Zukunftsvisionäre ihrer jeweiligen Zeit. Es dominieren, wie kann es anders sein, die Beiträge zum Auge: der böse Blick, die Blickfalle, die Retina, die Verlängerung des Auges, der Voyeurismus.
Nach der „Theoriegeschichte“, der wortwörtlich einige Sätze entnommen sind, sollt man das Album allerdings nicht von A – Z lesen, sondern sich lieber von den Gelüsten des Augenblicks leiten lassen.
Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006. Wilhelm Fink Verlag, 472 S., 39,90€
Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt am Main 2006, Edition Suhrkamp, 276 S., 12 €
zuerst erschienen: Süddeutsche Zeitung 28.06.2006