Historizität des Objektiven

36Die Geschichte der wissenschaftlichen Anwendung der Fotografie ist Gegenstand des zweiten Essaybands, der unter Herta Wolfs Herausgeberschaft im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Auch in dieser Sammlung finden sich einige Aufsätze aus den frühen 90er Jahren, die ihrerseits in erster Linie von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse sind. Sie zeigen einmal mehr, wie postmoderne Theorien allzu direkt auf das Beispiel Fotografie angewendet, zwar ihre Aussage plakativ illustrieren, aber doch dabei ihren Gegenstand zur austauschbaren Kleiderpuppe der Theorie werden lassen. Weiterreichende Erkenntnisse vermitteln die Aufsätze, die wissenschaftsgeschichtliche Detailstudien vornehmen und damit den Blick für die Historizität wissenschaftlicher Kriterien schärfen. „Objektivität“ beispielsweise ist eine von Anbeginn an der Fotografie zugeordnete Eigenschaft, die im 19. Jahrhundert den Anspruch auf ideale „Naturwahrheit“ ablöst. Inwiefern aber „Objektivität“ ein Maschinenideal ist, das seinen Gegenstand nach den Maßgaben seines Instruments ins Visier nimmt, zeigt der Einsatz der Fotografie in Anthropologie und Kriminologie des 19. Jahrhunderts. „Typen“ werden geschaffen, indem unter „objektiven“, immergleichen Bedingungen Aufnahmen von Menschen entindividualisiert werden. Vor einem Raster stehend, in der immer gleichen Haltung, mit gleichem Objektiv, gleichem Abstand, gleichem Licht fotografiert, womöglich nackt, wird der fotografierte Mensch zum Objekt degradiert, so dass ein kontrollierter lexikalischer Raum entsteht. Diese Einschätzung der so entstandenen „Alben“ des 19. Jahrhunderts von Elizabeth Edwards, korrespondiert mit einem Aufsatz vom Abigail Solomon-Godeau, welche die Arbeit sozialkritischer Dokumentarfotografie des 20. Jahrhunderts kommentiert. Das klassische Projekt der F.S.A. (Farm Security Administration) zur Situation der Wanderarbeiter in den USA der 30er Jahre beispielsweise ist durchaus problematisch: auch hier werden Menschen in Situationen fotografiert, die sie – anders als das Porträt – entindividualisieren.

„Objektiv“ ist Fotografie selbst dann nicht, wenn sie, wie die Momentfotografie, dem Auge bisher Verborgenes zur Sichtbarkeit bringt, arbeitet sie doch mit einem Zeitverständnis, das der Physik und nicht dem Wahrnehmungsapparat des menschlichen Körpers entstammt. Wie sehr aber gerade die Physik betont, dass keine objektiven Aussagen über die Welt getroffen werden können, sondern lediglich Aussagen über die sich aus dem Aufzeichnungsverfahren ergebenden Ergebnisse, zeigt ein Aufsatz von Herta Wolf über die fotografischen Experimente Ernst Machs. Mitte des 20. Jahrhundert hat man, wie ein wissenschaftsgeschichtlicher Text am Beispiel medizinischer Atlanten darlegt, sich dann auch wieder vom Leitbild der „objektiven“ fotografischen Aufnahme zugunsten des „interpretierten Bildes“ abgewendet. Fotografische Daten müssen individuell ausgewertet werden, eine Leistung die zu diesem Zeitpunkt einzig das geschulte Auge erbringen kann.

Herta Wolf (Hg):Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd.2. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2003. 492 S.,Fr.28.10
zuerst erschienen: Neue Zürcher Zeitung 20./21.03.2003