Zwei Anliegen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen, zeichnen die Aktaufnahmen des amerikanischen Fotografen Edward Weston (1886-1958) aus:
Er versucht, wie er es für seine besonders gelungenen Porträts formuliert hat, „Sekundenbruchteile emotionaler Intensität“ einzufangen. Und er erstellt mit seinen Arbeiten eine Art Alphabet, verfolgt beharrlich visuelle Korrespondenzen innerhalb der Vielfalt natürlicher Formen: „Alle grundlegenden Formen sind so eng miteinander verwandt, dass sie visuell gleichwertig sind… Es ist schon vorgekommen, dass auf meinen Aufnahmen (vor näherer Betrachtung) ein Rücken für eine Birne, Knie für Teile von Schneckenhäusern, ein Kürbis für eine Blume und Felsen für alles Mögliche gehalten wurden!“, kommentiert Weston seine Kunst.
Seine Akte sind Skulpturen, die mit ihrem Volumen den Raum modellieren und unter dem zärtlichen Blick, den er durch die Kamera auf sie wirft, ein Eigenleben der Formen und Schatten entfalten. Alles entsteht mit dem Lichteinfall, alles scheint aus dem gleichen Stoff zu sein, spielt sich vor unseren Augen ab, die sich an keiner Materialität stoßen, die einmal nichts berühren wollen, sich nur dem Sehen und Erfassen hingeben. Seine Akte sind oft nur in Teilansichten zu sehen, vertraute, dem Fotografen freundschaftlich verbundene Menschen stehen im Modell, die man aber nicht als Person erkennt und denen gegenüber er größte Diskretion wahrt. Weston ließ seinen Modellen freie Hand, was sie vor der Kamera tun. Und doch ist es sein Eingriff, der in den Bewegungen, die er schließlich mit der Kamera festhält, eine klassische, unverbrauchte Formensprache der Natur sichtbar werden lässt. Es gibt puristische Aufnahmen im Atelier, auf einer groben Decke, Dellen und Narben der Haut sind zu erkennen, Achselhaar, das anrührend anmutet wie der Anblick eines schlafendes Kindes, jeder Blick gerät so zum ersten Blick. Dann sieht man eine junge Frau, die wie eine angeschwemmte Meeresbewohnerin im Sand liegt. Hin und wieder werden Akte der Nahaufnahme einer Frucht gegenübergestellt: Die gewölbten Formen einer Paprika scheinen sich in der Körperhaltung eines sitzenden Aktes zu spiegeln, der ein Bein mit einem Arm umschlungen hält, und vice versa.
Das bei Schirmer/Mosel publizierte „Book of Nudes“ geht zurück auf eine Zusammenstellung von Aufnahmen aus den 20er und 30er Jahren, die Weston und die mit ihm befreundete Fotografiehistorikerin Nancy Newhall in den frühen 50er Jahren vorbereitet hatten. Sie konnte nicht wie geplant publiziert werden, sondern wurde erst kurz vor Westons Tod, in einer billigen Taschenbuchausgabe verramscht; die Maquette mit 26 Silbergelantine-Abzügen erwarb später ein Sammlerpaar, das es dem Getty Museum schenkte. Fehlende Vorlagen aus dem unvollständig vorliegenden Album konnten aus den Beständen des Museums und des Edward Weston Archivs ergänzt und jetzt in einer sorgfältigen Edition herausgegeben werden, gemeinsam mit dem in der Maquette enthaltenen Essay von Nancy Newhall, auf deren Arbeit Weston große Stücke hielt.
Edward Weston’s Book of Nudes. Hrsg. v. Brett Abbott. Nach der originalen von Nancy Newhall und Edward Weston zusammengestellten Maquette. Schirmer/Mosel Verlag München 2008, 88 S., 39 Duotone-Tafeln, 35 Abbildungen, 39.80 €
zuerst erschienen: Süddeutsche Zeitung 04.12.2008