Sacred modernity

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Kirchenneubauten der Nachkriegszeit und der sich anschließenden Jahrzehnte, in denen die Gemeinden wenig Schwund oder sogar Zuwachs erfuhren, liefern ein jedermann zugängliches Kompendium für die Formensprache moderner Architektur. Es gilt in dieser Zeit einige, aber nicht zu viele Anforderungen beim Bau einer Kirche zu befolgen, was ihre Funktion angeht, die Abhaltung von Gottesdiensten, sowie einige liturgische Vorgaben. Zeitweise eröffnete sich recht viel Spielraum, man war von kirchlicher Seite durchaus daran interessiert, im Sakralbau mit der Zeit zu gehen.

Heilig-Kreuz-Kirche – Vienna, Austria. Hannes Lintl, 1971-1975

Spätestens, wenn man den Band „Sacred Modernity“ von Jamie McGregor Smith in die Hand nimmt – er fotografierte vorwiegend in Deutschland, Italien, Polen, der Schweiz und in Österreich (mit Fokus auf Wien, wo der Smith seit 2018 lebt) – wird man sich des architektonischen Reichtums moderner Kirchengebäude bewusst.

Chiesa di Santa Maria Immacolata – Longarone, Italy – Giovanni Michelucci, 1975-1977

In der öffentlichen Aufmerksamkeit allerdings fristeten sie allzulange hinter gotischen, barocken und romanischen Kirchen ein Schattendasein. Die Wiener Arbeiten sind während der Pandemie entstanden. Kirchen waren von den staatlich auferlegten Schließungen nicht betroffen, sondern standen weiterhin offen und so kam es dazu, dass Smith die so angenehmen wie überraschend abwechslungsreich gestalteten Räume erkundete. Sie sind wie dafür geschaffen, Zeit in ihnen zu verbringen, auf einem Platz zu verharren, allenfalls zur stillen Besichtigung ein wenig umherzugehen.
Jamie McGregor Smith gelingt es mit seine Aufnahmen, die Besonderheiten der Architektur festzuhalten, aber fast immer im Zusammenspiel mit dem Ort, in den die städtischen Kirchen eingebunden sind. So sieht man in Innsbruck ein Wartehäuschen für den Bus, jenseits der Straße dann den Kirchenbau, im Hintergrund das Alpenpanorama. Passanten sind mancherorts zu sehen oder auch Menschen, die es sich auf einem vorspringenden Betonquader bequem gemacht haben, dem unteren von 152 frei über- und gegeneinander geschichteten, unterschiedlich großen Betonkuben, mit denen die Wiener Dreifaltigkeitskirche des Bildhauers Fritz Wotruba zu einer wuchtigen Skulptur geschichtet wurde. Mit der bekannten Kirche nahm das Projekt seinen Anfang, sie „definierte meine Vorstellung davon, was eine Kirche sein könnte, schön und brutal zugleich“, schreibt Smith in seine lesenwerten Einführung (die im Gegensatz zu den anderen Texten im Buch auch gut aus dem Englischen übersetzt ist).

Wotrubakirche-Vienna-Austria-Fritz-Wotruba-Fritz-G.-Mayr-1974-1976-Austria


Die Sakralbauten sind in ihrer jeweiligen Entstehtungszeit mit neuen Baustoffen und Konstruktionsprinzipien durch und durch modern. So werden bei den Kirchen Walter Förderers große Kreuze auf übereinander gestaffelten, gezackten Betonkuben luftig auf der Außenfront platziert.
Manch eine Kirche überrascht mit der Gegenüberstellung von wenig preisgebender Gebäudehülle und spektakulärem Inneren. Man ist versucht, bei Doppelseiten eine Seite abzudecken, um über die Innenansicht zu spekulieren, gerade so als würde man vorsichtig eine Kirchentür einen Spalt weit öffnen. Smiths Zugriff ist angenehm.

St Theresia Kirche – Linz, Austria – Rudolf Schwarz, 1959-1962.jpg

Sachlich, aber nicht zu nüchtern, ein erhellender Erkundungsgang, der dazu einlädt, Zeitstile, wie die anmutig-schlanken, aber auch von Kostendruck bestimmten Räume der 50er oder die raumgreifende Klotzigkeit der 60er und 70er Jahre, aber auch die Freiheiten der Lichtführung und nationale Unterschiede zu erkennen. Bald entwickelt man zum Beispiel einen Blick für die Besonderheiten polnischer Kirchenbauten. Ihre Baukörper sind oft kühner zugeschnitten als die ihrer westlichen Verwandten, sie sind in ihrer Formensprache recht direkt, mitunter bedrängend.
Im Kircheninneren sieht man länderübergreifend auf einigen Aufnahmen auch die – nennen wir es einmal so – Profanierung der architektonischen Form, die ausgerechnet mit der Religionsausübung unterläuft: temporärer Kirchenschmuck aus der Gemeinde, manches bunt und selbst gebastelt. „Wir stehen vor dem potentiellen Verlust eines öffentlichen Raumes, für den es keinen vergleichbaren Ersatz gibt“, schreibt Smith, er bietet auch Nichtgläubigen einen Ort des Innehaltens. Die Zukunft vieler Bauten, deren Unterhalt zu teuer wird, ist offen. Kultur jeglicher Art könnte sie, so Smith, mit neuem Leben erfüllen. Dieser Wunsch erklärt auch Smiths Außenansichten: Die Kirchen sind auf seinen Bildern keine Solitäre, sondern eingebunden in das Geschehen vor Ort und Ausdruck von Gemeinschaftsleben.


Jamie McGregor: Sacred Modernity. Berlin 1924. Hatje Cantz Verlag. 208 S., 126 Fotografien, 54 Euro

Zuerst erschienen in PHOTONEWS Mai 2024 Nr. 5/24