Kein anderes Buch in der Geschichte des Mediums war einflussreicher als Wilhelm Henry Fox Talbots rund 120 Seiten umfassende Foto-Buch „The Pencil of Nature“. Mit der Bedeutung der Gutenberg-Bibel für den Druck vergleicht Beaumont Newhall in seiner Einführung das Gewicht von Talbots Werk im Hinblick auf die Fotografie, vom „ersten Buch über die ästhetische Erfahrung der Fotografie“ spricht Hubertus von Amelunxen. Der gleichermaßen mathematisch-naturwissenschaftlich wie philologisch gebildete Fotopionier und Altertumsforscher Talbot vertrieb das mit 24 eingeklebten Kalotypien aufwändig produzierte Buch in einer überschaubaren Auflage an Subskribenten.
Talbots im Arabesken-Stil des 19. Jahrhunderts anmutig gestaltetes Buch ist zwar nicht das erste Buch, das mit durch fotografische Verfahren entstandenen Bildern illustriert ist – dieses Verdienst kommt nach derzeitigem Kenntnisstand einer Frau zu, Anna Atkins, die Fotogramme von Pflanzen für das (nicht kommerziell vertriebene) Album „British Algae, Cyanotype Impressions“ bereits 1843/44 erstellte. Aber es ist die erste Einführung in Chancen und Grenzen des neuen Mediums von einem der zahlreichen, um Anerkennung konkurrierenden „Vätern“ des Mediums selbst, souverän und im Bildteil mit kriminologischer Verve erzählt.
Stellenweise lesen sich so grundlegende Überlegungen wie das, was später in der Fotografiegeschichte „Spuren des Realen“ oder „Indexialität“ heißen wird, wie eine Detektivgeschichte – letztere wurde als literarisches Genre fast zeitgleich von Edgar Allen Poe erprobt (The murders in the Rue Morgue, 1841).
Die neuen Bilder der „photographic drawings“ so heißt es indes zunächst in Talbots einführenden Bemerkungen hatten niemals Berührung mit dem Zeichenstift eines Künstlers. Talbot streicht die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen der Fotografie heraus: Ausschließlich optische und chemische Mittel seien neben natürlichem Licht zum Einsatz gekommen. Danach schildert er die langjährigen Experimente, die erforderlich waren, um zu einem praktikablen Negativverfahren zu gelangen. Solch Verweis auf die Neuartigkeit von Bildern, die es einzuführen gilt, gerade im Hinblick auf ihr nicht auf Imagination begründetes Zustandekommen findet eine frühe Entsprechung in der Art und Weise wie der Renaissancekünstler Leon Battista Alberti, die neu begründete Zentralperspektive in seinem Buch über die Malerei einführte. Auch hier bestand die Notwendigkeit das neuartige, für das europäische Denken sich als so wirkungsmächtig erweisende Konstruktionsverfahren nicht nur dazulegen, sondern mit natürlich erscheinenden Prozessen zu begründen: Alberti verweist auf die Geometrie einer „Sehpyramide“ und „Sehstrahlen“, und damit auf (wenn auch bereits in der Antike und von Zeitgenossen wie Leonardo argumentativ widerlegte) optische Theorien – sowie auf ein offenes Fenster, durch das man zu blicken vermeint, wenn man einen zentralperspektivisch aufgebautes Bild betrachtet. Diese Parallele ist interessant, da sowohl Alberti als auch Talbot in ihren Büchern Verfahren vorstellen, welche die bisherige Welt der Bildproduktion revolutionieren. Aber nicht zuletzt auch deshalb, weil die Kamera tatsächlich ein zentralperspektivisch organisiertes Bild erzeugt, in einer Art und Weise, wie unsere Augen das niemals leisten können.
Scharfsinn gefordert
Im Bildteil von „The Pencil of Nature“ selbst, stellt Talbot dann jedem Bild einen knappen oder doch etwas ausführlicher werdenden Text gegenüber, mit dem er Weichen für die Diskussion der Gebrauchsweisen (der „Nützlichkeit“) und der Besonderheit des analog zustande gekommenen fotografischen Bildes legt. Gleich die erste Tafel zeigt nicht etwa ein ansprechendes Bauwerk, sondern die angeschnittene, heruntergekommene Fassade des Queen’s College in Oxford. Schon der einführende Satz ist Architekturkritik pur, die durch das Medium Fotografie auf einen Blick evident wird. Zu sehen ist der desolate Zustand der verwitterten Fassade, verursacht durch „injuries of time and weather“. Talbot mutmaßt, dass dem fortschreitenden Verfall nach zu urteilen, der verwendete Stein von Beginn an von minderwertiger Qualität gewesen sein muss. Der Schattenwurf, den man auf dem Boden der angrenzenden Gasse auf dem Bild erkennen kann, tut das seinige, um den Aspekt des Bedrohlichen zu verstärken. Vielzitiert und berühmt ist die zweite Tafel, die eine Ansicht auf einen Pariser Boulevard zeigt. Hier erweist sich Talbots schriftstellerisches Können, aber auch seine Weitsicht, was die Demokratisierung künstlerischer Motive angeht. Er schildert genau den Standort des Betrachters und tastet nach und nach die Szenerie auf Auffälligkeiten ab: Die Fassade eines Gebäudes liegt schon im Schatten, aber dennoch stehe ein einziger Fensterladen offen, man sieht auf der Straße zwei Schattenstreifen, die sich jedoch durch vorangegangenes Sprengen der staubigen Straße erklären ließen, am Straßenrand reihen sich wartende Kutschen, eine indes stünde etwas abseits von den Anderen. Jeden Moment erwartet der Leser, das hier etwas aufgeklärt werden sollte. Das allerdings obliegt dem Scharfsinn des Rezipienten, denn die Kamera würde, so Talbot, „einen Schornsteinaufsatz oder einen Schornsteinfeger mit der gleichen Unparteilichkeit festhalten wie den Apoll von Belvedere“. Dieser Gedanke Talbots für das (auch unbeabsichtigte) Erschließen neuer Themen durch das Medium ist tatsächlich bahnbrechend, galt doch Talbots Zeitgenossen Apollos Staute als Höhepunkt der klassischen, antiken Kunst und die Darstellung eines Kaminfegers allenfalls als pittoreskes Motiv. Gleich in der nächsten Platte („Gegenstände aus Porzellan“) wird Ernst gemacht mit der Verbindung zum Verbrechen: Lichtet ein Sammler seine Stücke rasch mit der Kamera ab, statt umständlich ein Inventar zu verfertigen, kann, im Falle eines Diebstahles, die Fotografie als Beweismittel dienen, wenn auch Talbot selbst die Schwierigkeiten durchaus sieht: „Jedoch überlasse ich es juristisch geschulten Köpfen, darüber nachzusinnen, was Richter und Geschworene dazu sagen würden“. Weswegen dies so ist, das wird mit der nächsten Tafel beschrieben, der Abbildung einer Büste, zu der Talbot selbst über vierzig unterschiedlich Aufnahmen angefertigt hat: Hier erklärt Talbot wie variierende Standorte und Lichtverhältnisse, aber auch die Abbildungsgröße ganz unterschiedliche Ergebnisse zeitigen und schlägt auch bereits vor, einen weißen Schirm zu konstruieren, mit dem zu helles, reflektierendes Sonnenlicht abgefangen werden kann. Alle Arten von Grafiken ließen sich mit dem neuen Verfahren aufnehmen, verbreiten und so untereinander vergleichen, aber auch Inschriften – und das wird für den Altertumsforscher Talbot selbst, der sich ab 1854 als Amateur ausschließlich der Entzifferung von Keilschrift auf den neu eingetroffenen mesopotamischen Tafel im British Museum zuwenden wird, von großer Bedeutung sein.
Die Demokratisierung der Bildmotive und des Zugangs zu Bildern, die das neue Medium wie nebenbei und von selbst zu betreiben scheint, bedeutet indes noch lange nicht eine Demokratisierung der Hierarchie innerhalb der Institutionen: Das British Museum gestattete Talbot als Amateur jahrelang nur in begrenztem Umfang einen Blick auf die Keilschrift-Tafeln und erst nach zehnjährigem Briefwechsel, erhält Talbot die Erlaubnis, die fotografischen Aufnahmen anzusehen, die mit Hilfe seiner Technik im British Museum von den Tafeln zur Katalogisierung angefertigt worden waren.
zuerst erschienen in: photonews 6/2016