John Bergers Essays zur Fotografie zu lesen, heißt, ihm in eine Welt der Zuneigung, der Behutsamkeit und des Zorns über die maßlose Ungerechtigkeit der kapitalistischen Weltordnung zu folgen. Berger tastet sich an seine Sujets heran, umkreist sie, lässt sich von der jeweiligen Eigenart eines Fotografen faszinieren. Er umfängt das Subjektive in behutsamen, ja zart anmutenden Beschreibungen, um von ihnen ausgehend dann auf die Form des Erkennens zu zielen, die analoge Fotografie als die ihr eigene Form des Weltzugangs beanspruchen darf. Die Auswahl von Essays, Vorworten und Gesprächen, die von Berger seit den Sechziger Jahren verfasst worden sind, ist getragen von der kontinuierlichen Sensibilität und Neugier des Schriftstellers. Er weiß so zu schreiben, dass man eine Fotografie vor Augen stehen sieht und dabei seinen eigenen Gedanken nachhängen kann – das ist eine große Hommage an das Medium und die Fotografen. Gleichzeitig sind Bergers Schriften durchzogen von den Diskursen der jeweiligen Zeit, ein wenig Walter Benjamin, etwas Susan Sontag, vor allem aber von Roland Barthes‘ Überlegungen zur Fotografie und einer (später verblassenden) Neigung zur marxistischen Theorie. Das verschafft, je länger die Aufsätze zurückliegen, auch einen Einblick in eine Zeit, in der Fotografie noch eine untergeordnete bis gar keine Rolle auf den Kunstmärkten spielte, die Anzahl der Fotografiegeschichten und Arbeiten zur Fotografie noch sehr überschaubar waren, so dass man sich frei auf einem Feld bewegte, wo das Schreiben über Fotografie selbst schon eine Entdeckung war.
Was Berger beschäftigt, ist das besondere Vermögen, beim Betrachten von Fotografien in eine andere Welt hinüberzugleiten. Wir sind nicht einfach nur mit einem Ausschnitt konfrontiert, der stillgestellte Zeit der Vergangenheit ins Bild setzt, sondern auf dem Wege in eine Welt, die sich nur in der Fotografie offenbart. Jede gelungene Fotografie fokussiert eine Schnittstelle: Das sichtbare Detail, auf das die Fotografie unser Interesse lenkt und einen darüber hinausweisenden Imaginationsraum, in den sie uns beim Betrachten hinüberzieht. Das kann die Einbettung in den Lauf der Geschichte sein, aber auch ein utopisches Moment, ein uneingelöstes Versprechen beinhalten. Keiner weiß das so schön zu formulieren wie Berger, das kommt selbst in der deutschen Übersetzung zum Klingen. Bergers Schriften wohnt ein eigenes Pathos inne, es ist ein pulsierendes Schreiben, das die soziale Dimension nie außer Betracht lässt. Sein Pathos ist dennoch nie kitschig, sondern enthält einen Schuss Einfachheit, ein Staunen vor dem Medium. „Glück ist (…) wie ein Foto! Und es ist eng mit dem verbunden, wovon du sprichst: dem Staunen“, bekennt er in einem per Fax geführten Briefwechsel mit der Magnum Fotografin Martine Franck.
John Berger ist auch Zeichner und wie nahe dieses Medium – Henri Cartier-Bresson ist ein berühmtes Beispiel, aber ich fühle mich auch an den kürzlich verstorbenen Gerhard Vormwald erinnert – dem fotografischen Blick steht, auch wenn das Zeitverständnis ein völlig anderes ist, zeigt dieser Dialog mit der eher nüchternen Martine Franck. Berger weiß sie mit den schönsten Formulierungen zu locken, das Kühne ihrer fotografischen Sichtweise sich selbst einzugestehen. Reagiert Martine Franck auf diese Avancen zunächst sehr zögerlich, so löst doch die – zunächst auch erst eher zurückhaltend aufgenommene – Zeichnung Bergers schließlich den Knoten. Zu sehen ist darauf ein erhobener Fuß, der sich anschickt, eine gepunktete Linie zu übertreten. „Transgression“, das ist das erlösende Wort, auf das sich Martine Franck gemeinsam mit John Berger in der Korrepondenz zubewegt, um ihre Bilder zu charakterisieren.
Manch ein Essay liest sich heute natürlich anders als zu der Zeit, in der er geschrieben wurde. Nicht nur, weil Fotografie eine anerkannte Kunstform ist und die Museen erreicht hat, während gleichzeitig massenweise geknipste Bilder zirkulieren und gleich und zu Recht dem Vergessen anheimfallen, sondern auch weil sich die politische Situation und die Kommunikationsformen grundlegend verändert haben.
John Berger: Der Augenblick der Fotografie. Essays. Carl Hanser Verlag. Edition Akzente. Hrsg. v. Geoff Dyer. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes, Andreas Jonda, Marion Kagerer, Kurt Rehkopf, Kyra Stromberg, Stephen Tree und Jörg Trobitius. 22 €
zuerst erschienen in: Photonews 12/16 Dezember 2016